„Sehen Sie Frau Lein, Herr Lein. Ich male keine Schreckgespenste an die Wand. Warum sollte ich? Bitte versuchen Sie sich einmal das Organ Lunge vorzustellen. Die Lunge ist kein solides Organ wie Niere oder Leber, sondern ein verletzliches Geflecht aus Millionen von luftgefüllten Bläschen, mit hauchdünnen Wänden, die von einem Netz feinster Blutgefäße eingesponnen oder direkt von Blut umspült sind. Nur diese riesige Austauschfläche kann die lebensnotwendige Atmung, die Aufnahme von Sauerstoff und die Entfernung von Kohlendioxyd bewältigen.“
„Herr Professor Bekker, meinen Sie nicht, dass das jetzt ein bisschen zu speziell ist. Ihre Mühe in Ehren, aber wir wollen keinen Privatunterricht von Ihnen haben, sondern nur wissen, wie es unserem Kind geht und welche Möglichkeiten es gibt, ihm zu helfen. Wir sollten ein wenig Rücksicht auf meine Frau nehmen. All diese Details machen es für sie doch nicht besser.“ Herr Lein hatte sich kerzengerade aufgerichtet. Sein Ton war aggressiv. Keine Frage, er würde als erster unter dem seelischen Druck zusammenbrechen, und er hatte bis jetzt nicht verstanden, worum es ging. Oder nicht verstehen wollte. Frauen waren die Stärkeren. Zum ersten Mal hob Frau Lein den Blick. Sie sah Bekker an, sprach aber zu ihrem Mann.
„Robert, ich bin der Meinung, wir sollten den Professor aussprechen lassen. Ich denke, er will uns etwas begreiflich machen, was wir bisher nicht realisiert haben. Und ich möchte es verstehen. Und Du doch auch, Liebling.“ Sie wendete sich ihrem Mann zu und legte ihre schmale Hand auf seinen Unterarm. „Dafür ist keine Zeit zu schade.“ Ihr Mann nickte stumm und zuckte in einer hilflosen Geste die Schultern. Sein Blick wendete sich seiner Frau mit großer Zärtlichkeit zu und großem Vertrauen. Bekker spürte ein unbestimmtes Gefühl der Eifersucht. Sie sah ihn wieder an, ließ dabei die Hand auf dem Arm ihres Mannes.
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat die Lunge einen heftigen Stoß bekommen und ist dabei gequetscht worden. Die unmittelbaren Folgen dieser Quetschung sind im Moment nicht zu sehen, werden aber wahrscheinlich im weiteren Verlauf noch Probleme machen, und zwar solche schwerwiegender Art. Das hat, wie Sie erklärt haben, mit der besonderen Beschaffenheit des Organs Lunge zu tun. Davon sprechen wir im Moment, richtig?“ Sie hatte es auf den Punkt gebracht. Bekker nickte heftig und lächelte.
„Genau so verhält es sich. Ich hätte es selber nicht besser ausdrücken können. Die Materie ist bereits für den Fachmann ziemlich kompliziert. Dass es ein sehr schwerer Zusammenprall war, zeigen die gebrochenen Rippen. Es bedarf einer großen Krafteinwirkung, bis eine elastische kindliche Rippe zerbricht. Die Reaktion der Lunge selbst verläuft stark verzögert. Die hauchfeinen Wände der luftgefüllten Bläschen, Alveolen genannt, verdicken, wodurch die Aufnahme von Sauerstoff mehr und mehr erschwert ist. Wenn dieser Prozess nicht durchbrochen wird, resultiert zum Ende eine Lunge, die hart ist wie Stein und in der keinerlei Sauerstoffaustausch mehr möglich ist. Ungefähr verstanden?“ Ein fragender Blick zu den Eltern. Die nickten.
„Wäre regelrecht spannend, wenn es nicht um unsere Tochter ginge“, sagte Frau Lein mit dem Anflug eines Lächelns.
„Früher, als man sich damit nicht ausgekannt hat, sind Patienten manchmal eine Woche nach überstandenem Unfall aus scheinbarem Wohlbefinden plötzlich verstorben. Der Pathologe findet dann ein Organ, das eher einer Leber ähnlich sieht, eine ‘hepatisierte Lunge‘. Der linken Lunge von Friederike droht im schlimmsten Fall ein solches Schicksal, wohlgemerkt, im schlimmsten Fall. Entschieden ist gar nichts.“ Bekker holte tief Luft, schwieg dann einen Moment. Die Luft in dem kleinen Raum war stickig. Bekker stand auf und kippte das Fenster. Draußen schien die Sonne. Er wandte sich wieder dem Ehepaar zu.
„Ich weiß, das war jetzt ziemlich detailliert, aber nur so können Sie verstehen und akzeptieren, was in den nächsten Tagen mit Ihrer Tochter geschieht. Prävention heißt das Zauberwort. Verhindern, dass die Lungenveränderungen in so schwerer Form überhaupt stattfinden. Dazu gehört neben allerlei medikamentösen Maßnahmen vor allem die Fortführung der künstlichen Beatmung über einige Tage. Vielleicht sogar Wochen. Dabei werden wir die beiden Lungenflügel gegebenenfalls getrennt beatmen, also jede Seite mit einem eigenen Gerät. Ich denke aber, dass ich darauf ein anderes Mal genauer eingehe. Es war genug Intensivchinesisch bis jetzt. Wichtig für Sie ist Geduld. Es wird ein längerer Krankheitsverlauf, aber ich bin zuversichtlich.“ Die angespannte Miene der Angesprochenen gab ein wenig nach, beinahe lächelten sie. Sie schienen erleichtert. Es gab also Hoffnung. Nur das zählte. Der Mann sprach als erster.
„Können wir irgend etwas tun? Wann sollen wir anrufen und sie besuchen? Sie haben hier viel zu tun, das sieht man ja, und wir wollen den Betrieb nicht stören. Nützt schließlich auch unserer Tochter.“ Bekker erhob sich aus der unbequemen Hocke.
„Rufen Sie an, wenn Ihnen danach ist. Ansonsten, die beste Tageszeit zum Telefonieren ist später Vormittag. Oder auch sehr früh, vor sechs. Es ist rund um die Uhr ein Arzt da. Besuchszeit ab fünfzehn Uhr. Auch hier gilt: kommen Sie ruhig, wenn Sie es nicht aushalten. Ihre Tochter ist zwar im künstlichen Tiefschlaf, aber sie merkt mit Sicherheit, dass Sie da sind. Wissen Sie, ich glaube nicht an die alleinseligmachende Medizin. Die Nähe lieber Menschen tut mehr als manches Medikament. Ich denke, Sie verstehen, was ich meine. Wir sind ein Team, das an einem Strang zieht. Sie gehören von Anfang an dazu. Nehmen Sie uns beim Wort.“ Die Oberärztin sah ihn scharf von der Seite an. Bekker war in seinem Element, und sie versuchte ihn davon abzuhalten, in eine seiner Endlospredigten über das Menschliche im allgemeinen und in der Medizin im besonderen zu verfallen, so sehr sie ihn für seine Einstellung schätzte. Sie nutzte die entstehende Pause, um Frau Lein direkt anzusprechen.
„Ich schlage vor, Sie gehen noch einmal zu Ihrer Tochter hinein. Ich gehe mit Ihnen, wenn Sie möchten.“ Frau Lein nickte unmerklich.
„Zuvor aber noch eine kurze Frage. Gibt es irgendwelche Vorerkrankungen bei Friederike? Unwahrscheinlich in dem Alter, aber sicher ist sicher.“
„Nein, sie ist ein vollkommen gesundes Kind.“ Ein kurzes, schmerzliches Zögern. „Jedenfalls war sie es bis heute.“
„Okay. Sonst noch etwas. Allgemeine Entwicklung normal? Ich nehme an, sie hat bereits ihre Periode.“ Frau Seelmanns Ton war geschäftsmäßig. Heutzutage hatten die Mädchen ihre Regel manchmal schon mit zehn Jahren. Sie wollte aufstehen und sah die Mutter an. Erschrocken hielt sie inne. Sybille Leins Fassade begann zusammenzubrechen. Ihr Blick ging ins Leere, und sie begann ohne jeden Übergang lautlos zu weinen. Sie schluchzte und schrie nicht, aber sie weinte hemmungslos, wobei die Tränen in endlosem Strom über ihre Wangen liefen. Regina Seelmann griff in ihre Kitteltasche und zog ein frisches Taschentuch hervor.
Sie wusste sofort, was die Frau aus ihrer mühsam gewahrten Fassung gebracht hatte. Es war die Erwähnung einer Banalität, einer Alltäglichkeit. Die Periode ihrer Tochter. Das gleiche junge Mädchen, das schwerverletzt auf einer Intensivstation lag und vielleicht sterben musste. Ja, sie hatte ihre Periode. Genau in diesem Moment musste der Mutter klar werden, dass sie alles dafür geben würde, ihrer kleinen Tochter weiterhin bei den Problemen mit der beginnenden Weiblichkeit zu helfen. Genau in diesem Moment fragte sie sich, ob sie die bisherige Zeit mit ihrem Kind genutzt hatte. Jetzt, wo Zeit plötzlich kostbarer war als alles andere und ihr gemeinsames Leben und Erleben vielleicht viel kürzer sein würden, als sie geglaubt hatte.
Bekker streckte sich vorsichtig. Gefühlsausbrüche machten ihn unsicher, da er selbst schnell in Wallung geriet. Er entschloss sich, die Eheleute der Oberärztin zu überlassen.
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