Bekker verständigte den OP und die unfallchirurgische Klinik. Sobald die Kleine stabil und die primäre Diagnostik abgeschlossen war, würde man operieren und Schrauben und Platten einsetzen. Eine laparoskopische Inspektion der Bauchhöhle konnte man gleich mitmachen, um eine intraabdominelle Blutung auszuschließen. Das war keine Affäre. Nun galt es, die Angehörigen zu verständigen und gegebenenfalls zu beruhigen. Die kleine Patientin war im Moment nicht gefährdet und ihr Zustand alles in allem stabil. Frau Seelmann hatte sich inzwischen gemeldet; sie würde die weitere Versorgung übernehmen.
„Die Eltern, ich stell’ durch.“ Gabriele Marx gab Bekker einen vielsagenden Augenaufschlag, als er an ihr vorbeirauschte.
„Ja, Bekker.“ Förmlich, abwartend.
„Ist sie tot?“ Eine Frauenstimme, schrill, seltsam teilnahmslos.
„Bitte?“
„Ist sie tot? Das ist doch eine ganz einfache Frage. Unsere Tochter, Friederike. Die ist doch bei Ihnen? Verstehen Sie mich? Wer sind sie nochmal?“ Die Frau sprach schnell, als wollte sie eine Antwort auf ihre vielen Fragen eigentlich vermeiden.
„Mal langsam. Mein Name ist Bekker, Anästhesiologische Klinik. Darf ich fragen, mit wem ich spreche? Hallo?“
Am anderen Ende der Leitung war es für einen Moment still. Dann Gemurmel. Offensichtlich standen mehrere Personen um das Telefon herum. Dann leise, beinahe kleinlaut,
„Verzeihen Sie, mein Name ist Gerda Lein. Ich bin die Mutter von Friederike Lein. Sie ist vom Auto angefahren worden. Auf dem Heimweg von der Schule. Der Fahrer ist falsch abgebogen. Das arme Kind.“ Sie brach ab. Wartete. Bekker räusperte sich.
„Ihre Tochter ist hier, Frau Lein. Sie ist ziemlich schwer verletzt, das muss ich Ihnen leider jetzt schon sagen, aber ihr Zustand ist stabil und es besteht zur Zeit keine Gefahr für ihr Leben. Bitte kommen Sie schnellstmöglich in die Klinik. Sie können sich in meinem Büro melden. Anästhesiologische Klinik. Wir benötigen Ihre Einwilligung zur Operation. Ich lasse alles vorbereiten.“ Er wartete.
„Eine Operation? Um Gottes willen, was wird denn operiert?“
„Ihre Tochter hat beide Oberschenkel gebrochen. Das muss man frühestmöglich operativ stabilisieren. Außerdem müssen die Chirurgen in den Bauch gucken, um sicher zu sein, dass keine inneren Organe verletzt sind. Das ist aber nur ein kleiner Eingriff. Am besten, ich erkläre Ihnen die Einzelheiten hier vor Ort. Ehrlich gesagt, die Zeit drängt. Woher kommen Sie?“ Die Frau schien sich sammeln zu müssen.
„Wir sind von hier“, antwortete sie schließlich. Dann, zusammenhanglos, „Wie sie auf der Straße lag und sich nicht rührte. Wir kamen zufällig einige Augenblicke nach dem Unfall vorbei, und da lag das Kind.“ Sie kämpfte offensichtlich, um ihre Fassung zu bewahren. „Wir dachten beide, sie wäre tot. Der Unfallfahrer war über alle Berge. Ein Passant hatte bereits die Polizei benachrichtigt, und der Notarzt kam sofort. Dann lebt sie.“ Sie schien es erst in diesem Moment wirklich zu begreifen.
„Sie lebt!“ rief sie laut. Dabei wendete sie sich offensichtlich anderen Personen zu, denn ihre Stimme war für einen Moment nicht zu verstehen.
„Mein Gott“, sagte eine Männerstimme im Hintergrund. „Mein Gott.“
Bekker wartete geduldig. Er hatte den Hörer an die Wange geklemmt und begann Briefe der täglichen Post zu öffnen. Dann die Frau wieder.
„Also gut. Vielen Dank. Natürlich, wir kommen. Städtische Kliniken. Sekretariat Anästhesie. Sie sind Herr Doktor...?“
„Bekker“, sagte Bekker. Er sah die Post durch und ließ sich Frau Seelmann auf der Intensivstation geben, wo die kleine Patientin auf die Operation vorbereitet wurde.
„Wie sieht’s aus? Was macht die arme Maus? Haben Sie alle Bilder gesehen?“
„Nicht so toll“, kam es zurück. „Tja, vital stabil ist sie im Moment natürlich, aber wegen der Prognose bin ich nicht so optimistisch. Das Auto muss sie frontal erwischt haben. Haben Sie die Eltern erreicht? Die Patientin muss schnellstmöglich in den OP.“ Regina Seelmann seufzte. Sie machte sich ohne Fragen Sorgen. Bekker fand, dass sie manchmal ein bisschen schwarz sah. Allerdings lag sie damit oft richtig. Aber hier? Zwei Beinbrüche. Ein paar Rippen durch. Er konnte nicht ganz folgen, wartete aber auf weitere Erläuterungen.
„Also von oben nach unten. Am Kopf ist nichts. Keine Fraktur, keine Prellungen, wahrscheinlich keine Commotio oder ähnliches. Das CT ist vollkommen unauffällig. Die Wirbelsäule ist in allen Bereichen okay. Auch das Becken hat glücklicherweise nichts abbekommen. Soweit die guten Nachrichten. Sorge macht mir der Brustkorb. Links Rippenserienfraktur von der dritten bis zur neunten Rippe. Alle komplett durch, alle mit Dislokation, da steht kein Ende auf dem anderen. Dabei teilweise Stückfrakturen, mit Verletzung des Lungenparenchyms durch die fünfte Rippe. Nicht viel, aber immerhin. Bisher hat es vielleicht zweihundert Milliliter in die Pleura geblutet, und ich meine, man kann zur Zeit noch auf eine Drainage verzichten, zumal es während der Diagnostik nicht zugenommen hat. Sie hat auch keinen Pneumothorax, also ein Bronchus ist nicht verletzt.“ Bekker nickte stumm. Auf seiner Stirn waren steile Falten erschienen. Das hörte sich dann doch alles andere als gut an. Frau Seelmann hatte leider recht. Wie alt war das Kind? Zwölf Jahre, meinte er sich zu erinnern.
„Im CT sieht man an der Lunge noch nicht viel. Die Verletzung durch das Rippenfragment ist derzeit der einzige auffällige Befund. Kaum sichtbare Verdichtung durch die Einblutung und die Stauchung. Aber der Unfallhergang und die Verletzung des knöchernen Brustkorbs sprechen eindeutig für eine heftige Lungenkontusion, und ich fürchte, spätestens in zwei Tagen gehen die Probleme los. Wenn Sie nachher hochkommen, würde ich mit Ihnen gerne eine seitengetrennte Beatmung diskutieren, sonst schleppt die schlechte Lunge die gesunde mit ins Verderben. Operativ ist da nichts zu machen. Die Unfallchirurgen sehen bei dem Befund keine Chance, die Rippen durch Platten zu stabilisieren. Ich hab’ sicherheitshalber eine Unfallklinik in Süddeutschland angerufen, wo sie mit Rippenserienfrakturen sehr viel Erfahrung haben und auch etliches operieren, wo andere kneifen. Ihr Einverständnis vorausgesetzt. Die sagen aber dasselbe: am Brustkorb nicht operieren. Ich schick’ denen die Röntgen- und CT-Befunde in jedem Fall noch einmal per E-Mail.“
Bekker nickte wieder. Er holte gelegentlich zweite Meinungen ein und ermunterte die Erfahrenen seiner Mitarbeiter ausdrücklich dazu, es ebenso zu handhaben. Es gab komplexe Probleme, bei denen bestimmte Kliniken oder einzelne Kollegen andernorts erwiesenermaßen über erheblich mehr Erfahrung verfügten. Es wäre in Bekkers Augen grob fahrlässig, auf das Können und die Erfahrung anderer zu verzichten. Das hatte die ersten Male teilweise zu heftigen Reaktionen geführt.
„Wie kommt der neue Anästhesist dazu, fachfremde Entscheidungen durch Dritte herbeizuführen, anstatt dies ausschließlich der Kompetenz der bettenführenden Klinik zu überlassen? Der soll sich um seine Narkosen kümmern“, fluchte Professor Kunze bei der chirurgischen Besprechung, „Gashahn auf, Gashahn zu! Alles andere soll er denen überlassen, die’s können.“ Auf sein Betreiben wurde eigens eine Sondersitzung des Chefarztgremiums zu diesem Thema abgehalten.
Kunze hatte bei dieser Sitzung allerdings keineswegs den Rückenwind verspürt, den er sich erwartet hatte. Die Meinung der Operateure war zwiespältig. Insgesamt überwog zwar die Einschätzung, dass Bekker seine Kompetenzen überschritt, auch wenn man andererseits in Einzelfällen sehr wohl die Hilfe besonders erfahrener Kollegen und Institutionen in Anspruch nehmen sollte. Bekker selbst war von der ganzen Affäre weder positiv noch negativ überrascht. Dennoch empfand er es als bemerkenswert, wenn an einer deutschen Klinik der Sinn tradierter Mechanismen durch ein Chefarztkollegium diskutiert wurde. Das wäre an der Uni vollkommen undenkbar gewesen.
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