Bekker hatte eine dezidierte Vorstellung, wie Eltern sich in einem solchen Moment fühlen. Ihre letzte Erinnerung war in der Regel ein fröhliches und lebhaftes, vor allem aber gesundes Kind. Dies hier war ein Schock, ganz gleich, wie differenziert die Menschen waren, und ganz gleich, wie lange sie Zeit gehabt hatten, sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Die Eltern der kleinen Friederike standen stumm am Bett. Frau Lein nahm dankbar den angebotenen Schemel und setzte sich dicht an die Bettkante, um die Hand ihrer Tochter halten zu können. Diese kleine, blasse, kalte Hand. Bekker ließ die Familie eine Weile für sich, dann kehrte er zurück und fasste die Schulter der Mutter mit sanftem Druck.
„Ich habe hier zwei Formulare. Das eine ist die Einverständniserklärung für die Operation, das andere für die Anästhesie. Sie müssten bitte unterschreiben. Das Kind geht gleich in den OP. Ich hatte Ihnen ja am Telefon schon gesagt, warum.“ Frau Lein nahm die Schriftstücke wortlos aus seiner Hand, legte sie auf den Nachttisch und unterschrieb. Gab sie Bekker zurück, der sie in die Patientenakte legte. Sie stellte keine Fragen. Auch ihr Mann blieb stumm.
„Wir müssen uns unterhalten“, sagte Bekker. „Es gibt ein kleines Stationszimmer hier. Kommen Sie. Sie können im Moment für Ihre Tochter nichts tun.“ Das Stationszimmer der Intensivstation war von den Abmessungen her eine bessere Besenkammer. Dazu vollgestopft mit Regalen und einem EDV-Arbeitsplatz mit zwei Bildschirmen. Bekker nannte es scherzhaft ‘Arztschrank’, und mehr war es beim besten Willen nicht. Die Ärzte standen, nachdem das Ehepaar Lein mit einigem Sträuben die beiden einzigen Stühle akzeptiert hatte. Der Mann fand als erster seine Sprache wieder.
„Wenn ich das alles richtig begreife, ist Friederike ziemlich schwer verletzt. Sie müssen ein bisschen Geduld mit uns haben. Wir kommen beide nicht aus dem naturwissenschaftlichen Metier. Meine Frau ist Maklerin. Immobilien. Ich bin Anwalt. Arbeitsrecht. Also entschuldigen Sie, wenn wir dumme Frage stellen.“
Bekker nickte freundlich. Lein wiederholte sich, als wolle er verhindern, dass man zum Kern kam. Er wartete einen Moment, ob direkte Fragen gestellt würden, zumal Herr Lein seine Frau fragend ansah. Aber sie schwieg und hatte den Blick gesenkt. Sie sagte nichts, sie weinte nicht, saß einfach nur so da.
Bekker hatte für solche Situationen immer die gleiche Strategie, die er lediglich nach der spezifischen Erkrankung des betroffenen Patienten variierte und nach seiner persönlichen Einschätzung der Belastbarkeit seiner Ansprechpartner. Auch die Vorbildung spielte eine Rolle; mit einem Arzt konnte man anders reden als mit einem Steuerberater oder einem Handwerker. Jedoch, es gab psychische Belastungen, wo intellektuelle Merkmale in den Hintergrund traten.
Je härter das Schicksal die Menschen traf, desto ähnlicher wurden sie einander. Dieser Fall war für ihn besonders bedrückend. Ein zwölfjähriges Mädchen. Ein unschuldiges Kind, beatmet auf seiner Intensivstation. Wahrscheinlich aus einem fröhlichen, unbeschwerten Leben herausgerissen, von einem Moment auf den anderen. Ohne jede Vorankündigung. Jenny war im gleichen Alter, auch blond, ein bisschen pummeliger vielleicht wie die Kleine mit ihren vielen Schläuchen in der stillen Box. Er hatte seine Kinder schon seit einigen Wochen nicht mehr gesehen und beschloss, nach der Besprechung sofort bei Birte anzurufen. Er wollte unbedingt wissen, dass es ihnen gut ging. Jetzt ging er in die Hocke, um mit den Eltern einigermaßen auf Augenhöhe zu sein. Dieses Gespräch war von allen das wichtigste. Sie würden sich noch viel zu unterhalten haben, und es galt, den Grundstein zu legen für gegenseitiges Vertrauen und gegenseitigen Respekt.
Bekker bevorzugte absolute Offenheit, und er spekulierte nicht. Dezidierte Einschätzungen über Behandlungsdauer und Erfolgschancen ließ er sich grundsätzlich nicht entlocken, jedenfalls nicht in Zahlen. Mancher hatte schon hier gesessen und erwartet, dass er eine exakte Prognose abgab, etwa ‚Überlebenschance von dreiunddreißigkommafünf Prozent‘ oder so. Bekker wusste, es gab Kollegen, die sich aus Selbstüberschätzung oder aus Mitleid zu so etwas hinreißen ließen. Er nicht. Aber die Diagnosen, mit den daraus resultierenden Konsequenzen für die Unversehrtheit des Kranken, mussten in aller Offenheit dargelegt werden. Schonungslos. Es nutzte nicht, vor lauter Mitgefühl ein rosarotes Bild zu malen. Die betroffenen Menschen waren gestraft genug. Keiner konnte das seelische Desaster zerstörter Hoffnungen nachempfinden. Lieber die Dinge etwas schwärzer malen, als man selbst sie einschätzte.
„Also lassen Sie mich noch einmal von vorne beginnen. Sie können mich jederzeit unterbrechen, ganz gleich, was Ihnen auf der Seele brennt. Sie wissen, es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten.“ Er lächelte, aber seine Augen blieben ernst. „Ihre Tochter wurde vom Auto angefahren, soviel wissen wir. Was genau abgelaufen ist, hat im Moment für uns keine Bedeutung. Allerdings ist sicher, dass Ihr Kind von der linken Seite angefahren wurde. Ich komme gleich darauf zurück. Bei diesem Unfall hat ein sehr heftiger Zusammenprall stattgefunden. Ohne falsche Hoffnungen wecken zu wollen – es ist ein Glück, dass Friederike nicht das Geringste am Kopf abbekommen hat. Auch die Wirbelsäule und das Becken sind nicht verletzt.“ Bekker wusste nicht genau, wieweit die Eltern die bisherigen Informationen aufgenommen hatten und wiederholte deshalb das Wesentliche noch einmal.
„Ihre Tochter hat eine glatte Oberschenkelfraktur auf der rechten Seite. Das ist kein Problem, weder für uns noch den Operateur. Auf der anderen Seite sieht es weniger gut aus. Der linke Oberschenkel ist mehrfach gebrochen, Trümmerfraktur nennt man das, und ähnlich verhält es sich mit den Rippen.“
Das Ehepaar saß da, stummes Entsetzen in den Gesichtern.
„Die Frakturen des Oberschenkels lassen sich operativ gut richten. Bei einem jungen Menschen sowieso. Das Hauptproblem ist die linke Lunge.“ Ein erster Blick mit vorsichtigem Unverständnis.
„Die Lunge?“ sagte der Vater leise. „Ist denn die Lunge verletzt? Sind es denn nicht nur ein paar Rippenbrüche?“ Er lächelte schief, hilflos. „Natürlich meine ich nicht ‘nur‘. Das ist alles schlimm genug. Aber die Lunge? Ich dachte, an der wäre nichts groß verletzt.“ Es klang fast wie ein Vorwurf. So, als ob Bekker diese Verletzung eigenmächtig hinzugefügt habe. Bekker nahm es gelassen. Gespräche dieser Art entwickelten sich manchmal zu einem regelrechten Handel. Die Betroffenen taten alles, die schlimmen Nachrichten zu entschärfen. Sie versuchten mit einer Art naiver Verzweiflung das Positive, die Hoffnung in den Vordergrund zu rücken und die schreckliche Realität zurückzudrängen. Als er antwortete, sah er Frau Seelmann zuerst an und dann wieder die Eltern.
„Das ist richtig. Aber eine Rippe ist in mehrere Teile zerbrochen, und eines dieser Fragmente hat die Lunge verletzt. Nicht sehr schwer. Eine Einspießung von vielleicht zwei, drei Zentimetern.“ Bekker sah einen Hoffnungsschimmer in den Augen des Vaters, fuhr aber unbeirrt fort, „Das ist aber, leider, nicht das Hauptproblem. Davon rede ich nicht in erster Linie.“ Der Hoffnungsschimmer erlosch.
„Sehen Sie, die beiden Lungenflügel, rechts und links, füllen fast den gesamten Brustkorb aus. Das Herz und die großen Gefäßabgänge sind auch noch da. Das alles gehört ja auch funktionell eng zusammen. Wird nun auf eine Seite des Brustkorbs, wie bei Ihrer Tochter, ein heftiger Stoß ausgeübt, so wird die Lunge für den Bruchteil einer Sekunde gequetscht, selbst wenn die Rippen nicht brechen. Solch eine Verletzung bleibt in vielen Fällen initial unsichtbar, das heißt, man sieht sie in keiner Röntgenaufnahme und auch das erste CT ist weitgehend unauffällig.“ Bekker spürte, dass die Irritation bei den beiden eher zunahm. Eine so schwere Verletzung, aber man sieht sie nicht? Woher wollte er überhaupt wissen, dass es diese Verletzung wirklich gab? Bekker wusste genau, was sie dachten. Es war jedoch essentiell, dass die Eltern der kleinen Friederike ihn verstanden. Je schneller sie sich darüber klar wurden, dass es bei ihrer Tochter bald auf Leben und Tod gehen könnte, desto besser. Auch wenn im Moment für den Laien, aber auch für den unerfahrenen Arzt keinerlei Anzeichen auf eine solche Entwicklung hindeuteten.
Читать дальше