Im schwachen Schein einer Straßenlaterne konnte ich den nur halb ausgeleuchteten Stamm, eines in meinen Augen riesigen Baumes erkennen, dessen dichtes Astwerk vom ausgestrahlten Licht seltsam illuminiert wurde. Doch als ich erkannte, dass er noch über drei Meter entfernt war, stöhnte ich gequält auf.
Hätten sie mit ihrem Ritual denn nicht warten können, bis wir in seiner Nähe gewesen wären?
Dann bräuchte ich jetzt nicht dicht hinter ihnen mühsam über den welligen Asphalt zu kriechen und mir dabei die Haut aufzuschürfen. Allmählich verging mir die Lust an diesem Abenteuer.
Abermals wollte ich ihre Gedankenlosigkeit verfluchen, als mehrere Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit an uns vorbei brausten. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sich auf der anderen Seite des Grünstreifens eine Straße befand. Eine blaue Kuppel hätte da bestimmt merkwürdig in der Allee ausgesehen.
Doch dann viel mein Blick auf Nathalie, wie sie sich verbissen vorwärts kämpfte und keine Müdigkeit oder Zögern erkennen ließ. Sie wollte ihren einmal gefassten Entschluss unbedingt verwirklichen. Nichts und niemand würde sie jetzt noch davon abhalten können. So schimpfte ich zwar weiterhin leise über die würdelose Kriecherei vor mich hin, doch kroch ich tapfer voran.
»Oh nein!« stöhnte ich auf, als ich den dicken Stamm endlich erreichte und sah, wie sie sich mit ihren Flügeln entschlossen daran in die Höhe zog.
Doch mir blieb keine andere Wahl, als es ihr gleich zu tun, obwohl mir allein schon von diesem Anblick die Schultern zu schmerzen begannen. Es sah verdammt anstrengend aus.
Beharrlich zog ich mich an der rauen Rinde nach oben, hakte die kleinen Krallen an den Spitzen meiner Flügel in deren enge Rillen und Spalten, stemmte die Beinchen unter mir in die kleinste Unebenheit, um meine Arme zu entlasten.
Nach schweißtreibenden Stunden, so erschien es mir wenigstens, erreichte ich endlich in circa zwei Metern Höhe ein dünnes Ästchen, an das ich mich erschöpft hängen konnte. Meine Höhenangst machte mir diesmal keine Schwierigkeiten, da ich ja nicht haltlos hinab stürzen konnte.
Doch leider war mir keine Ruhepause vergönnt. Denn kaum hatten wir alle einen geeigneten Ast gefunden, da spreizte Nathalie, die etwas über mir hing, ihre ledrigen Flügel und ließ sich todesmutig in die Tiefe fallen. Mit einem schrillen und begeisterten Fiepen segelte sie geschwind in die Dunkelheit davon und war bald aus meinem Radar verschwunden.
Ohne zu zögern folgten Nell und Neve ihrem Beispiel, während ich mir plötzlich nicht mehr so sicher war, ob es wirklich eine so gute Idee war, mich ihnen anzuschließen. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich auch als Falke ganz gut zurecht gekommen war, obwohl ich zuvor noch niemals geflogen war.
So nahm ich einen letzten, tiefen Atemzug, raffte all meinen Mut zusammen – und ließ los.
Wie ein Stein fiel ich nach unten. Der schwarze Asphalt kam gefährlich schnell näher. Ich war wie gelähmt und vergaß vor lauter Schreck, meine Schwingen auszubreiten. Erst im allerletzten Moment übernahmen meine Instinkte die Kontrolle.
Mit Mühe und Not gelang es mir den Sturz dicht über dem Boden abzufangen. Nur die Krallen meiner Beinchen und die Spitzen meiner Flügel berührten für einen Sekundenbruchteil den Asphalt. Ansonsten kam ich heil davon.
Hektisch flatternd versuchte ich an Höhe zu gewinnen. Dabei zog ich immer größere Spiralen um den Baum, wobei ich immer mehr an Sicherheit gewann und schließlich die Spitze der Krone erreichte.
Sobald ich dies geschafft hatte, sah ich mich rasch um, um herauszufinden, wohin sich die Schwestern gewandt hatten. Leichte Panik stieg in mir auf, als ich im ersten Augenblick keine Spur von ihnen fand. Wütend flatterte ich über dem Baum umher.
Wie konnten sie nur so gedankenlos sein?
Hatte ich nicht schon genug durchgemacht?
Leise vor mich hin wetternd, kreiste ich weiter über dem Baum herum und bemühte mich verzweifelt, eine Spur von ihnen zu entdecken. Doch es wollte mir nicht gelingen. Immer hektischer flatterte ich hin und her, während mein kleines Herz wie wild pochte.
Hoffentlich hatten sie mich nicht vergessen.
Das wäre der absolute Gipfel!
Warum hatten sie überhaupt die Gestalt von Fledermäusen gewählt und nicht die eines Nachtvogels mit einem wesentlich besseren Sehvermögen?
Aber halt!
Fledermäuse?!?
Ultraschall! Natürlich!
Wie hatte ich das nur wieder vergessen können?
Diese kleinen nachtaktiven Flattertiere mochten zwar fast blind sein, aber mit ihrem Ultraschallsinn konnten sie sich noch in der tiefsten Finsternis hervorragend zurechtfinden, wie ich ja schon feststellen konnte.
Mit neuer Zuversicht öffnete ich meine spitze Schnauze, stieß eine Folge der für Menschen fast unhörbaren Schreie aus und war bestrebt, deren Echos mit den relativ großen Ohren aufzufangen. Doch obwohl ich es gehofft hatte, gelang es mir mit diesem ersten Versuch nicht, den Aufenthaltsort der drei Schwestern zu ermitteln. Nicht die kleinste Reflexion kam zu mir zurück.
So zog ich gezwungenermaßen weiter meine Kreise und schickte einen Schrei nach dem anderen in alle Himmelrichtungen. Mein Frust wuchs stetig, je mehr Fehlversuche ich zu verzeichnen hatte. Sie waren wie vom Erdboden verschwunden.
Ich hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben und mich damit abgefunden, dass ich unverrichteter Dinge nach Hause fliegen konnte, als ich drei sehr schwache Reflexe am Rande meiner Wahrnehmung ausmachte, die sich zudem dicht nebeneinander befanden. Das konnten, ja mussten Nathalie, Neve und Nell sein. Anders konnte es gar nicht sein. Das hoffte ich zumindest.
Sofort nahm ich mit kräftigen Flügelschlägen die Verfolgung auf. Zum Glück flogen sie nur gemächlich dahin, so dass es mir innerhalb kurzer Zeit gelang, zu ihnen aufzuschließen. Neve und Nell begrüßten mich mit einem fröhlichen, schrillen Fiepen, als ich mich neben sie setzte. Nur Nathalie ignorierte mich wie gewohnt.
Jetzt stellte sich auch wieder das berauschende Gefühl ein, völlig ungebunden und frei hoch über dem Erdboden dahin zu gleiten. Zwar war es mit dem Flug als Falke ganz und gar nicht zu vergleichen. Aber nichtsdestotrotz genoss ich es in vollen Zügen.
Auch gelang es mir immer besser, mich mit Hilfe des Ultraschalls unter dem wolkenlosen Sternenhimmel zu orientieren. Sukzessiv steigerte sich dieses erhabene Gefühl zu einer berauschenden Sinneserfahrung, das mich tatsächlich all meine Sorgen und Bedenken vergessen ließ.
Es ging sogar so weit, dass ich mich in wagemutigen Sturzflügen spontan dem kaum erkennbaren Boden entgegen stürzte. Äußerst knapp schoss ich darüber hinweg und jagte den aufgeschreckten Insekten in wilden Manövern hinterher. Dann raste ich wieder steil in die Höhe, schlug übermütig Loopings und wirbelte um die eigene Achse. Kurz gesagt, ich sprühte nur so vor Lebensfreude.
Ich führte mich so wild und enthemmt auf, dass ich mich selbst kaum wiedererkannte. Es war sehr lange her, dass ich das letzte Mal so ausgelassen war. Zudem spornte mich das heitere Lachen von Neve und Nell noch mehr an, obwohl sie versuchten, meine Flugkünste geflissentlich zu übersehen. Nur Nathalie gab sich den Anschein, dass sie mich ignorierte. Dennoch bemerkte ich immer wieder, wie sie mir kurze Blicke zuwarf.
Doch ich hatte es zu bunt getrieben.
»Achtung!« schrie ich so laut ich konnte, als ich abrupt aus meinem heiteren Freudentaumel gerissen wurde.
Denn in den vielfältigen Echos, die meinen Geist erfüllten, hatte sich jäh ein großer, dunkler Schatten abgezeichnet, der mit extrem hoher Geschwindigkeit auf mich zugeschossen kam. Sofort warf ich mich herum und sauste davon.
Im nächsten Moment konnte ich ein enttäuschtes Krächzen vernehmen. Hoffentlich zeigte es mir, dass die drei Schwestern augenblicklich auf meine Warnung reagiert hatten und ihnen auch die Flucht in letzter Sekunde gelungen war. Nachprüfen konnte ich es nicht, denn ich hatte genug mit mir selbst zu tun.
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