„Brr, ist das kalt“, beklagte er sich. Er zog die dicke Jacke aus und strich zwei Eiskörnchen aus seinem Bart.
„Ich hab dir was mitgebracht“, sagte er fröhlich. Maria streckte die Hand aus und nahm das Geschenk entgegen. Papa schwieg verdutzt, als er den genau gleichen Adventskalender in ihrer anderen Hand sah. Dann lachte er, zog Maria und Mama an sich und meinte: „Meiner hat aber mehr Glimmer drauf.“
Maria wurde immer verwirrter. War das etwa ein Zeichen? Ein Zeichen, dass ein ungerufener Gast lange bleiben sollte? Waren alle Zufälle vielleicht gar keine Zufälle? Sie nahm sich fest vor, unter der Bettdecke über alles nachzudenken. Aber sie schlief ein, noch bevor sie sich richtig zurechtgekuschelt hatte.
***
Maria hörte im Halbschlaf, wie Mama Frühstück machte. Es war Dienstag, der einzige Tag in der Woche, an dem die Eltern beide so früh zur Arbeit mussten, dass Maria alleine frühstückte. Gleich würde Mama im Mantel zur Türe hereinkommen und sagen: „Es steht alles für dich bereit. Steh nicht zu spät auf. Vergiss dein Pausenbrot nicht. Und schließe die Haustür zu.“
Warum sagen Mütter eigentlich immer dasselbe?
Erst nachdem die Eltern weg waren, fiel ihr Hans Engel wieder ein. Maria war mit einem Schlag hellwach. Sie sprang aus dem Bett und schlüpfte eilig in Jeans und Pullover.
„Wahrscheinlich habe ich das alles nur geträumt“, sagte sie halblaut vor sich hin. Um noch etwas Zeit zu gewinnen, fuhr sie sich mit dem feuchten Waschlappen zweimal übers Gesicht. Dann schlich sie auf Zehenspitzen durch den Flur und horchte an Philipps Tür. Es war nicht das Geringste zu hören. Vorsichtig öffnete Maria die Tür. Philipps Bett war unberührt, und es war niemand zu sehen.
„Huh!“ machte Hans Engel und sprang hinter der Tür hervor.
Maria fuhr zusammen. „Blödmann!“ sagte sie wütend. „Du hast mich zu Tode erschreckt.“
„Entschuldige“, sagte Hans Engel zerknirscht. „Ich mache immer alles falsch. Daran wirst du dich gewöhnen müssen.“
„Ich denke nicht daran“, zischte Maria, „bessere dich gefälligst.“
„Ja gut!“ versprach Hans Engel. Er sah wieder aus wie ein trauriger Bernhardiner, und Maria musste lachen, ob sie wollte oder nicht. Hans Engel nutzte dies gleich aus und fragte: „Kann ich den einen Adventskalender haben?“
„Ich wollte dir sowieso einen schenken“, sagte Maria. „Was soll ich schließlich mit zwei gleichen Kalendern?“
Sie holte die Kalender aus ihrem Zimmer und streckte Hans beide entgegen.
„Welchen willst du?“ fragte sie.
„Den anderen“, sagte er.
„Was genau meinst du mit dem anderen?“ fragte Maria verdutzt.
„Na ja“, meinte Hans Engel, „der eine, den dir deine Mama gebracht hat, hat dir doch so gut gefallen. Also nehme ich den anderen.“
„Der hat aber mehr Glimmer drauf“, beschwerte sich Maria.
„Eben“, bemerkte Hans Engel mit breitem Grinsen und zog sachte an Papas Adventskalender-Geschenk. Ein bisschen Glimmer blieb dabei an seinem Daumen hängen.
„Du schaffst es wohl immer, einen Vorteil für dich herauszuschinden“, seufzte Maria und überließ Hans den Kalender.
„Ich habe es doch nur gut gemeint“, jammerte Hans. „Aber wie man’s auch macht ist es falsch...“
Maria schüttelte den Kopf und versuchte verächtliche Schnalzgeräusche von sich zu geben. Sie konnte es noch nicht so gut wie Frau Brandmeier, ihre Lehrerin.
„Ich hole jetzt die Klebestreifen“, sagte Maria, „dann kannst du deinen Adventskalender aufhängen.“
„Kann ich auch gleich ein Fensterchen öffnen?“ fragte Hans Engel und zappelte ungeduldig herum.
„Kannst du“, beruhigte ihn Maria, „heute ist doch der erste Dezember.“
„Willst du sehen, was drin ist?“ fragte Hans.
„Nein“, lachte Maria, „ich seh mir mein eigenes Fensterchen an.“
Sie ging in ihr Zimmer zurück, klebte den Kalender an die Fensterscheibe und öffnete das erste Fensterchen.
„Oh, wie niedlich“, rief sie aus, „ein kleiner Igel auf dem Weg zur Krippe!“
„Bei mir sind es zwei niedliche kleine Igel auf dem Weg zur Krippe“, behauptete Hans Engel. Maria rannte in Philipps Zimmer hinüber, das nun das Zimmer von Hans war, und überzeugte sich davon, dass er Recht hatte.
„Hast du das im Voraus gewusst?“ fragte sie empört.
Hans Engel wand sich nach allen Seiten. „Gewusst nicht“, meinte er verlegen, „aber gehofft hatte ich es schon.“
„Weißt du was“, schnappte Maria wütend, „du machst wirklich einiges falsch! Aber heute Abend werde ich Mama und Papa sagen, dass du hier bist. Du wirst sehen, ehrlich währt am längsten.“
Hans Engel schien von der Aussicht auf so viel Ehrlichkeit nicht überzeugt zu sein. Er bibberte, als fürchte er sich oder als habe er schreckliches Lampenfieber. Aber Maria ließ ihm keine Zeit für Einwände. Sie schnappte sich ihr Pausenbrot und ihren Ranzen, zog Jacke und Mütze an und polterte die Treppe hinunter. Weiter vorne in der Strasse sah sie Lorenzo und Johanna. Sie atmete erleichtert auf. Wenigstens kam sie nicht zu spät. Leider aber hatte Frau Brandmeier einen ihrer strengen Tage, und so kam Maria auch während der Schulstunden nicht zum Nachdenken.
***
Am ersten Dezember hatte sich keine Gelegenheit geboten, den Eltern die Sache mit Hans Engel zu beichten. Es war einer jener mühsamen Tage gewesen, an denen die Erwachsenen überhaupt nicht zuhörten. Mama und Papa schienen die Köpfe voller Schnee zu haben. Obwohl die Strassen geräumt worden waren, dachte Mama unentwegt an all die Katastrophen, die Autofahrern auf dem Weg zur Arbeit zustoßen konnten. Was für ein Glück, dass sie mittwochs frei hatte. Auch Papa redete vom Schnee. Er und die anderen Arbeiter hatten den Baukran vom Eis befreien müssen. Sie hatten später mit ihrer Arbeit beginnen können, sodass Papa abends Überstunden machen musste. Er kam spät, und er war „hundemüde“, wie er sagte.
Und inzwischen war es still und leise Mittwoch geworden, und Hans Engel saß noch immer unentdeckt in Philipps Zimmer. Vielleicht war er schon verhungert oder vor Langeweile umgekommen. Maria zog die Handschuhe aus, steckte sie in die Jackentasche und zog sich an den Ohren. Nun begann sie schon selbst, sich Katastrophen auszudenken. Vielleicht wurde sie darin noch eines Tages so gut werden wie Mama. Aber wer wusste schon zu sagen, ob sich Hans Engel nicht so schrecklich gelangweilt hatte, dass er mit Philipps Schwungradauto gespielt hatte. Natürlich hätte Mama den Lärm gehört, und natürlich hätte sie sofort die Polizei alarmiert. Maria ging schneller, wurde aber gleich wieder langsamer. „Hätte ich es bloß gleich gesagt“, jammerte sie vor sich hin.
Als sie leise die Wohnungstür öffnete, hörte sie, wie zwei Leute sich in der Küche unterhielten. Die eine Stimme gehörte unverwechselbar Hans Engel. „Die ganz düsteren, traurig dunkelbraunen Adventskalender sind die schönsten“, sagte er gerade, und Mama warf fröhlich ein:
„Aber ein bisschen Glimmer muss schon drauf sein!“
„Natürlich“, bestätigte Hans Engel eifrig, „ohne Glimmer ist ein Adventskalender gar nichts wert.“
„Übrigens“, sagte Mama und lachte, „ihre rechte Augenbraue glitzert.“
Und als Maria zögernd in die Küche trat, sagte Mama nichts weiter als:
„Stell dir vor, Maria, der junge Mann hier mag Weihnachten genauso gerne wie ich. Es kann ihm gar nicht kitschig und glimmerig genug sein.“
„Es wird das Beste sein, wenn ich einfach aufhöre zu denken“, beschloss Maria. Und so wunderte sie sich ganz und gar nicht, als der Gast im rosa-grau geringelten Pullover plötzlich vom Küchenhocker aufstand, Mama umständlich die Hand reichte und sagte: „Übrigens, ich bin Engel, Hans Engel!“
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