In der Nähe von Edelweiß fährt Anne rechts über die Brücke unter der die Bahnschienen zum Hauptbahnhof Kempten sich entlang ziehen. Dann geht es lange geradeaus auf der Eich und über den Ring. Nun sind sie in der Kottener Straße angelangt. Rechter Hand ist die Einfahrt in den Parkplatz.
„Da ist doch alles voll“, lautet Monikas Urteil.
„Warte doch. Wir fahren eine Runde. Irgendwo finden wir schon ein Plätzchen.“ Anne sollte Recht behalten. Tatsächlich in einer der hintersten Ecken machen sie ein freies Plätzchen aus.
‚Annes Fahrkünste sind nicht die besten. Aber eines muss man ihr lassen‘, denkt Monika neidisch, ‚sie kann wenigstens einparken. Schon stehen sie in der engen Parklücke und zwängen sich aus dem Auto heraus.
Monika hat wie üblich eine Bauchtasche um. Handtaschen mag sie nicht. Anne muss sich vom hinteren Sitz den Rucksack hervorhangeln. Kein einfaches Unterfangen, wenn man in das Nebenauto keine Delle drücken will.
Jetzt gehen die Freundinnen untergehakt über den Parkplatz.
„Nachdem wir bummeln wollen, rollen wir die Einkaufsmeile von unten auf“, schlägt Monika vor.
„So etwas Ähnliches habe ich mir auch gedacht.“
Zwischen Forum und Big Box schlendern sie die Bahnhofstraße Richtung Fischerstraße hinunter.
Von unten aufrollen bedeutet in der Regel, man fängt beim Kaufhof an. Der wird ihr erstes Ziel.
Schon von der Bahnhofstraße aus können sie auf das Gewimmel in der Fischerstraße hinunterschauen.
„Sollen wir uns das wirklich antun?“, stöhnt Monika. Sie mag Menschenmassen nicht besonders. Zumindest nicht, wenn es ums Einkaufen oder Volksfest oder Ähnlichem geht. Der einzige Ort an dem sie Menschenmassen erträgt ist beim Start eines Marathons.
Anne, die die Ängste der Freundin kennt, sagt daraufhin: „Stell dir einfach vor, du läufst einen Marathon.“
Abrupt bleibt Monika stehen. „Wie bitte?“
Anne lacht. „Wenn du Marathon läufst, bist du auch nicht allein.“
„Du kommst aber auch auf Ideen!“ Monika lacht jetzt auch und zieht die Freundin weiter.
Die leichte Brise trägt die ersten Töne der Musik zu ihnen. Je näher sie zur Fußgängerzone kommen, desto lauter wird die Musik. Beschwingt drängeln sie sich durch die Fischerstraße und gehen am Kaufhaus Reischmann vorbei. Auf dem Residenzplatz steht eine Kapelle und spielt Musik.
„Mensch, heute ist ja Wochenmarkt!“, ruft Anne aus. „Komm lass uns einmal durchgehen.“
„Früher gab es da gute Würste“, erinnert sich Monika. „Leisten wir uns eine?“
„Nach dem Ärger, den ich heute Morgen schon hatte, ist mir die Lust zum Frühstück vergangen“, gibt Anne zu. „Eine Wurst würde mir schon schmecken.“
Sie gehen zum Stand an der hintersten Ecke und genehmigen sich jede ein Paar Wienerle und eine Brezel. Derart gestärkt schlendern sie an der Residenz vorbei.
Als sie vor den Toren des Gerichts stehen, sagt Anne: „Als Kunde möchte ich da nicht mehr rein.“
Monika grinst. „Ich tue alles dafür, dass ich diesen Advokaten mein schwer verdientes Geld nicht mehr zukommen lassen muss.“
Die Freundinnen haben hier ihr Scheidungsdrama über die Bühne gebracht.
Anne nickt nur. Am Zebrastreifen überqueren sie die Straße und betreten den Kaufhof. Planlos streunen sie durch die Damenbekleidung, dann die Herrenbekleidung. Schließlich gelangen sie in dem zweiten Stock.
„Ich geh hier mal für kleine Mädchen“, erklärt Anne, die an einer Konfirmandenblase leidet.
„Gut, ich schau mich hier um.“ Anne geht von der Rolltreppe geradeaus auf das Restaurant zu, während Monika sich zu HiFi und sonstigen Elektrogeräten begibt.
Als Anne zu ihrer Freundin stößt, fahren sie mit der Rolltreppe wieder hinunter und verlassen das Kaufhaus.
Den Weg, den sie gekommen sind, kehren sie wieder zurück. Das Kaufhaus Reischmann lassen sie rechts liegen und schlendern die Fischerstraße entlang.
Auf der Höhe der Freitreppe ist kein Weiterkommen. Die Musik wird lauter. Eine der Bands, eine Holländische, kommt musizierend die Treppe herauf und bahnt sich den Weg durch die Menschenmassen.
Die Freundinnen können bei der Musik nicht still stehen und tänzeln ein wenig vor Ort.
„Klasse!“, stellt Monika fest. „Dort unten spielen sie auch Musik. Weißt du was, ich lad dich auf dem Rathausplatz zu einem Cappuccino oder so was ein.“
Monika hakt sich wieder bei der Freundin unter. „Da sage ich natürlich nicht nein“, erwidert diese.
Langsam steigen sie die Treppe hinunter. Auf dem Absatz in der Mitte steht schon die nächste Kapelle. Hier bleiben die zwei Frauen das nächste Mal stehen und lauschen der Musik.
Dann endlich wenden sie sich dem Rathausplatz zu.
„Wir sind nicht die einzigen, die den Einfall hatten“, meint Monika nüchtern und will schon wieder umkehren.
„Da vorne am Tisch.“ Anne deutet mit dem Finger auf einen Tisch.
„Da sitzen doch schon zwei Männer“, stellt Monika fest.
„Hast du Angst vor Männern?“
„Blöde Kuh.“
Ohne auf die Bemerkung zu reagieren, steuert Anne den Tisch an. Monika bleibt nichts anderes übrig, als der Freundin zu folgen.
„Ist da noch frei?“, hört Monika die Freundin fragen. Und dann ein überraschtes „Hallo!“
In sicherer Entfernung bleibt Monika stehen und wartet ab, was Anne jetzt veranstaltet und wen sie getroffen hat. Schließlich sieht sie, wie Anne dem einen Mann einen Kuss auf die Wange drückt und zwei Stühle zurechtrückt. Ein sicheres Zeichen, dass sie sich hier niederlassen. Also tritt sie an den Tisch.
Der freundliche Gruß, den sie aussprechen will, bleibt ihr beinahe im Hals stecken. Schließlich bringt sie ein gepresstes „Hallo“ hervor und hofft, der eine der Männer erinnert sich nicht mehr an sie.
„Na, hallo, aber“, sagt da einer der Männer, bevor der andere den Mund überhaupt öffnen kann. „Und, alles klar mit dem Auto?“
Anne und der zweite fremde Mann schauen wie Fragezeichen auf Monika und den Menschen, der ihr damals das Rad gewechselt hat. Monika hatte es dienlich vermieden ihrer Freundin vom peinlichen Vorfall mit dem Radwechsel zu berichten.
Monika nickt und sagt nur: „Ja.“
„Ach, ihr kennt euch?“, kommt seitens der überraschten Anne.
„Nein“, antworten Monika und der Fremde wie aus der Pistole geschossen im Chor.
Anne und der zweite Mann schauen sich sichtlich erstaunt an.
Jetzt setzt der damalige private Automechaniker an: „Ich habe nur bei Nacht und Nebel einen platten Reifen gewechselt.“
„Bei Nacht und Nebel?“, wiederholt Anne ungläubig. Dann schüttelt sie den Kopf. „Ist ja auch egal. Darf ich dir Monika Zenert vorstellen. Herbert Schmid“, damit weist sie auf den anonymen Retter, der somit auch einen Namen hat.
Monika nickt Herbert dezent und verhalten zu.
„Was darf es sein?“, mischt sich der Kellner ein, der gerade an den Tisch tritt.
„Für mich einen Cappuccino“, sagt Monika schnell.
„Ja für mich auch.“
Die Männer fragt er nicht mehr, die haben bereits jeder eine Portion Kaffee vor sich stehen.
Anne, das weiß Monika schon jetzt, wird sie im Auto auf der Heimfahrt löchern. Da muss sie durch.
„Wenn wir schon bei der Vorstellungszeremonie sind“, Herbert weist auf seinen Begleiter. „Frank Neuner , Anne Michel.“
Die beiden reichen sich die Hand. Also macht Monika es ihnen nach.
Anne und Herbert unterhalten sich angeregt, während Frank und Monika nur Zuhörer sind und sich einen Schwank aus der Jugend der beiden anhören.
So bleibt Monika Zeit zu überlegen, was dieser Herbert wohl für ein Mensch ist. Offensichtlich kommen Anne und Herbert aus dem gleichen Ort, nämlich Fischen oder besser Umgebung.
Dieser Frank spricht Hochdeutsch. Vielleicht ein Urlauber, dem Herbert ein wenig vom Allgäu zeigen will. Alles in allem, uninteressant. Nicht wert, sich weiter den Kopf zu zerbrechen.
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