„Carl, ich hoffe, dass Smith diesmal recht hat und die neue Variante taugt wirklich etwas“. Wie oft hatte Smith ihnen schon den Durchbruch versprochen. Alles hatte bislang nichts genutzt. Ihre Waffe blieb stumpf, ihre Frankensteinalge kam mit den Bedingungen in der Rußfabrik einfach nicht klar. „Scheiße, Tim, was ist, wenn uns dieser Wagner auf die Spur kommt?“ „Man, wie will der denn nachweisen, dass wir unsere träge Stammform in der Rußfabrik einsetzen? Wagner hat überhaupt nicht die Mittel, um uns etwas nachzuweisen. Mensch Reimer, verlier jetzt nicht die Nerven. Wenn Smith Recht hat und 11.09 stabil ist, dann kann uns Wagner mal kreuzweise. „Und wenn nicht?“ Reimer starrte mit hängenden Schultern Löcher in den Boden. „Wir sind jetzt soweit gekommen, Carl. Wir lassen uns von diesem Engpass nicht aus der Kurve werfen! Verdammt Carl, ich zähl da auf dich.“ „Tim, seit Wochen sind alle unsere Angaben geschönt. Wir geben bei der Vernichtung von Kohlendioxid viel zu hohe Werte an. Wir veröffentlichen Zahlen, die gar nicht stimmen. Das ist kriminell, ich mach da nicht mehr mit.“ „Carl, du hängst mit drin, jetzt lass dich nicht hängen! Uns trennen noch ein paar Zentimeter vom Ziel. Du weißt doch wie leistungsstark 11.09 ist“. „Ja theoretisch“, erwiderte sein Assistent mit schiefem Grinsen. Wenn wir definierte Gase durchjagen. Mit den Abgasen kommt diese blöde Mutante aber einfach nicht klar. Scheiße, und dann habe ich auch noch unsere verunreinigte Stammkultur und krieg die nicht sauber.“ Was hat denn die Kosmetiktante gesagt? Sind unsere Verträge mit denen sicher?“ „Carl, mach dir nicht so viele Sorgen. Unsere Verträge mit algalflower stehen nicht auf dem Prüfstand“, log er. „Tim, ich trau der ganzen Sache einfach nicht mehr“. Wütend war Reimer von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte Janzen alleine im Raum zurückgelassen.
Sebastian Wagner hatte sich in der letzten Woche gemeldet. „Hallo Tim, wie geht es dir? Man hört ja wahre Wunderdinge über eure Alge. Ich wollte euch in nächster Zeit einen Besuch abstatten und mir selber ein Bild machen. Ach ja, wir sehen uns ja in Wiesmoor. Lass uns die Dinge dort mal durchsprechen und einen Termin ausmachen.“ Scheißfreundlich hatte er getan, dieser scheinheilige Mistkerl. Wagner war ein Arschloch und neuerdings Projektprüfer beim Technikom in Leipzig, das im Auftrag des Bundesministeriums für Erneuerbare Energien Förderanträge begutachtete und Projekte prüfte. Das war in doppelter Hinsicht beschissen für Janzen. Wagner war eine unüberwindbare Hürde, um an neue Forschungsaufträge zu kommen und Janzens aktuellen Projekte standen durch ihn unter besonderer Beobachtung. Er kannte Wagner aus Studienzeiten und verband keine guten Erinnerungen mit ihm. Es waren Zweifel an der Kohlendioxidaufnahmekapazität seines Algenfilters aufgetaucht. Grundlage seines Unternehmenserfolges waren gentechnisch veränderte Grünalgen mit besonderen Eigenschaften. Turboalgen, wie er immer betonte, wenn er auf seine Wunderwaffe angesprochen wurde. 11.09 war ihr Codewort für dieses gentechnische Produkt, das bislang nur auf dem Papier funktionierte. Irgendwer hatte Gerüchte in die Welt gestreut. Gerüchte, denen Wagner liebend gerne nachging. Janzens Daten aus Testreihen bildeten die Grundlage für die hohen Einnahmen, die die Rußfabrik mit dem Verkauf von CO2-Zertifikaten einstrich und auch für die Zuwendungen von Fördermitteln durch das Ministerium. Aber jetzt stand alles auf der Kippe.
In diesem Labor, das wie ein Tresor zur Außenwelt abgeschirmt war, kultivierten Janzen und sein Assistent Carl Reimer ihre Algen. Was hier passierte, war ein gut gehütetes Geheimnis, die Grundlage ihres wirtschaftlichen Erfolges. Die beiden setzten mikroskopisch kleine Lebewesen, Grünalgen der Gattung Chlorella ein, um das Kohlendioxid aus den Abgasen der Rußfabrik abzufangen und in Biomasse umzuwandeln. In der alten Rußfabrik vor den Toren der Stadt wurden schwere Rußöle verbrannt, der gewonnene Ruß als Verkaufsprodukt in Säcke verpackt und Millionen Tonnen klimaschädliche Auswürfe in die Luft gejagt. Es waren keine gewöhnlichen Algen, die sie hier verwendeten. Es war eine spezielle Art mit ganz besonderen Eigenschaften. Sie träumten von ungebremstem Wachstum, davon, dass ihre Algen schnell wuchsen, in gigantischen Dimensionen Kohlendioxid verbrauchten und Biomasse erzeugten. Es ging um Optimierungen, es ging ums Ganze. Darum, ob die Industrie bereit sein würde, ihre lebenden Kohlendioxidfilter zu ordern. Es gab immer neue Rückschläge. Aber sie hatten Hoffnungen, verfügten über einen speziellen Algenstamm, auf den sie all ihre Anstrengungen richteten. Sie hofften auf die Alge aus der Pfütze. In Nagano hatte Haijme Hagawe, Assistent am biologischen Institut der dortigen Universität, vor Jahren in einer Regenpfütze eine Art der Gattung Chlorella mit erstaunlichem Wachstumstempo gefunden. Hagawe hatte das auf Spontanmutationen in Folge der hohen radioaktiven Belastung in dieser Region zurückgeführt. Janzen hatte Hagawe unter fragwürdigen Umständen in einem Badehaus in Kyoto angetroffen, wohin er im Auftrag der Bundesumweltstiftung zur Klimakonferenz gereist war. Hagawe hatte Janzen gebeten, sich die Alge genauer anzuschauen.
Zusammen mit den Kollegen in San Diego hatten sie es später durch gentechnische Eingriffe geschafft, die Aufnahme und Verarbeitung von Kohlendioxid immer weiter zu steigern. Die gentechnischen Eingriffe waren aber umstritten. Das Wortpaar „genetisch verändert“ brachte sofort die Umweltschützer auf den Plan und man stand dauernd unter Beschuss. Es war zwar erstaunlich einfach gewesen, eine Züchtung mit hoher Stoffwechselrate zu erzeugen, das Problem war nur, dass die Zellen heiß liefen und sich zu Tode schufteten. Ihre Mikroalgen waren wie Bodybilder, die vor Kraft nicht laufen können.
Sie hatten über Wochen Tag und Nacht gearbeitet, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Raimer hatte in dieser Zeit oft auf einem Feldbett in seinem Büro geschlafen und irgendwann war der Knoten geplatzt. Sie hatten ein ausgewogenes, aber sehr empfindliches Verhältnis von Nährstoffen und Beleuchtung gefunden. Bedingungen, unter denen die gentechnisch veränderte Variante einen perfekten Dienst verrichtete. Diese Algen waren reinste Kohlendioxidfresser mit einem riesigen Appetit. Leider funktionierte das Alles nur unter genau definierten Laborbedingungen. Zumindest bis jetzt. Draußen in der Rußfabrik herrschte ein anderes Klima, das hatten sie noch nicht im Griff. Aber das musste ja keiner wissen.
Getrocknet und abgepackt ließen sich die Algen sogar verkaufen. Sie hatten einen speziellen Stamm mit viel grünem Farbstoff extra für die Kosmetikindustrie gezüchtet. Der Stamm, der aus noch ungeklärten Gründen verunreinigt war. Das Zeugs sollte gegen Hautalterung helfen. So bewarben sie es auf jeden Fall. Die Verkäufe brachten mittlerweile ganz schön was ein. Damit das auch so blieb, dafür setzte sich Janzen bei Kim Krüger ein.
Steigende Preise erzielten sie beim Verkauf der Algenbiomasse an die Energieversorger, die daraus Biokraftstoffe herstellten oder in Biogasanlagen elektrische Energie. Jeden Tag verließen zehn Lastwagen das Werksgelände zu den nahegelegenen Biogasanlagen, voll bepackt mit teilgetrockneten Algen. Sie hatten Pläne in der Tasche, auf dem Gelände der Rußfabrik eine eigene hochmoderne Biogasanlage zu bauen. Aber noch war das Zukunftsmusik. Sie konnten nicht klagen, aber es gab Schwierigkeiten, deren Tragweite Janzen nicht abschätzen konnte. Auf dem Weg bis hierhin hatten sie einfach zu viele Leichen verscharrt und die Spürhunde hatten ihre Fährte aufgenommen.
5
Mila Shantar, Biologin am Niederländischen Institut für Meerwasserforschung in Rotterdam, stand am White Board und zeigte Fotos mikroskopischer Aufnahmen. Meereslebewesen in einem Wassertropfen, tausendfach vergrößert. Janzen sah Formen, die an Monster und Ufos erinnerten.
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