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Wolken, wohin man auch blickte, an diesem Tag Ende Mai. Feuchtigkeit und Nebel klebten an den Fenstern der ehemaligen Lagerhalle im mittlerweile angesagtesten Viertel dieser Rheinmetropole und hüllten sein Loft in ein kühles schmutziggraues Tuch. Früher, als hier auf dem Gelände der ehemaligen Gummifabrik die Schlote noch geraucht hatten, stellten Arbeiter in blauen Industrieuniformen erst Hosenträger und später Schwingungsdämpfer für Gleise her. In seinen besten Zeiten hatte das Werk, eingezwängt zwischen den Wohnquartieren der Arbeiterfamilien hier im Westen der Stadt, mehr als 2000 Werktätige beschäftigt. Heute erstreckte sich auf dem ehemaligen Werksgelände, in Rechtecke und Quadrate parzelliert, das in Wohnraum gegossene Lebensgefühl zahlungskräftiger Bewohner. Ging es nach den Klimaforschern, die mal lustvoll und mal sorgenfaltig den Untergang vorhersagten, würden die schädlichen Gase aus dem Gedärm der Autos und Kühe Hitze und Sturm bringen, die Felder verdörren und den Asphalt schmelzen lassen. Stattdessen hatte er den Eindruck, dass es in diesen Breiten Jahr für Jahr zwar wärmer, aber auch feuchter wurde.
Vor seinem Corbusierdreisitzer stehend blickte er durch die von Dunst beschlagenen Glasscheiben auf das hässliche Loch in der Backsteinwand, das die Abrissbirne heute Morgen hinterlassen hatte. Nach und nach wurde alles hier nach Denkmalschutzrichtlinien saniert und vergoldet. Le Corbusier hätte Gefallen an Janzen gehabt – zumindest an seinem Geschmack. Das schwarze Möbel stand als einziger Gegenstand vor der groben und nur mit Sandstrahl gesäuberten Industriewand, die an verschiedenen Stellen von angerosteten Metallplatten durchbrochen war. Vom Schornstein der alten Gummifabrik, der als Relikt stehengeblieben war, wanderte sein Blick jetzt zu Kim Krüger auf dem schwarzen Ledersofa, mit der ihn seit Jahren eine vertrauensvolle Beziehung verband, die weit über das rein Geschäftliche hinausging.
Nachdem er von Reimer über den kritischen Zustand der Stammkultur informiert worden war, hatte ihn Ramona, seine Sekretärin, an den Termin erinnert. „Besuch für dich, blond“, hatte in der Kurzmitteilung gestanden. Ein Smiley war angefügt. „Kindisch“, hatte er gedacht und nicht gewusst, ob er ihr diese Anzüglichkeit durchgehen lassen sollte. Bei den Frauen hatte Janzen Schlag, aber er musste immer wieder irritiert und manchmal ratlos feststellen, dass sie bei ihm nicht das suchten, was er selber bei ihnen zu finden hoffte: Abenteuer und das Spiel mit dem Feuer. Frauen schätzten ihn, weil er zuhören konnte, weil er aufmerksam war. Für sie war er eine Mauer zum Anlehnen, ein Dach zum Unterstellen. Das wusste er, aber auf diese innere Stimme, die ihm diese Tatsache beharrlich zuflüsterte, wollte er nicht hören. Er weigerte sich, das zu akzeptieren. Kim wollte ihn weder als Mauer noch als Dach, nahm ihn so, wie er sich gerne sah. Die Key Account Managerin von algalflower , sehr blond, sehr viel Schmuck, sehr teure Klamotten, machte Geschäfte mit ihm. In der Wahl ihrer Mittel war sie nicht zimperlich. Der kleine, aber prosperierende Kosmetikkonzern mit Sitz in Luxemburg und Produktionsstätten in Portugal und Bulgarien war spezialisiert auf Naturkosmetika mit Rohstoffen aus dem Meer.
Er und Kim hatten sich vor Jahren in Berlin auf einem Kongress getroffen. Es war darum gegangen, Startup - Unternehmen für Produkte und Dienstleistungen rund um die sich anbahnende Klimakatastrophe lukrativ an den Start zu bringen und Fördermittel abzugreifen. German Angst war die treibende Kraft dafür, dass Deutschland bei diesen Geschäftsideen die Nase vorne hatte, und der Staat unterstützte großzügig Projekte und Unternehmer, die sich gegen den Untergang stellten. Natürlich waren auch sie gefangen im Untergang, aber zunächst einmal wollten sie davon profitieren.
Er erinnerte sich gut daran, wie Kim, deplaziert im Gedränge der Nachhaltigkeitskittel, auf hohem Absatz und in engem Cocktailkleid in einer Vortragspause auf ihn zugestöckelt kam. Sie hatte sich mit drei Betriebswirtschaftsstudenten zusammengeschlossen und nach Möglichkeiten gesucht, ihre Firma, die Kosmetikprodukte auf Algenbasis herstellte, nach Ablauf der staatlichen Förderung in die Gewinnzone zu führen. Dazu brauchte sie ihn. Er kannte sich aus mit Algen, dem Rohstoff und Elixier ihrer Produktpalette. Er hatte sie angesehen, Kosmetik war nicht sein Gebiet, aber für diese Frau mit den strahlend blauen Augen, dem vielleicht etwas zu tief geschnittenen Dekolletee und dem üppig modellierten Busen lohnte sich die Lüge.
Das alles schoss ihm durch den Kopf, während Kim mit gespreizten Beinen vor ihm auf dem schwarzen Sofa saß und auf weitere Höhepunkte wartete. Irgendwann hatten sie diese Grenze überschritten und seitdem liefen ihre geschäftlichen Treffen in einem wiederkehrenden Muster ab. Seine Nase nahm den leichten Moschusgeruch auf, der an den Innenseiten ihrer Schenkel hing. Er kniete sich vor sie hin, nahm auch den Geruch von feinem Rindsleder und frischen Austern wahr. Mit der Zunge umkurvte er das große Muttermal und achtete dabei auf ihren Atem. Wenn die Widerstände aus Scham und Zweifel überwunden sind, ist alles ganz einfach, dachte er. Und noch, dass es eine Grenze gibt, an der Umkehr unmöglich ist. Grasend in ihrer kurzgeschorenen Wiese schloss er die Augen und ließ Bilder zu. Mit seiner Lippe zog er an den beiden Ringen, die in ihrer Scham eingelassen waren. Platin mit einer eingefassten Perle. Klappernd verbiss er sich in ihnen. Töne und Klänge drangen an sein Ohr.
Er lag jetzt auf diesem Steg auf diesem See in der Sonne. Die Stahlzüge an den Masten des Segelbootes schlugen in den sich kräuselnden Wellen gegeneinander und klopften einen Teppich hoher rhythmischer Töne hinaus. Er machte die Augen auf und betrachtete den See vor sich. Ein unperfektes, aber harmonisches Oval aus gekräuselten Schamlippen im Glanz silbriger Feuchtigkeit. Kim pulsierte in flachem Atem, schlug den Kopf von links nach rechts und zurück. Mit seiner Zunge suchte er die Spitze der inneren Lippen, von dort nach unten bis zum anderen Ufer. In der Mitte tauchte er in sie ein. Kim krampfte ihre Schenkel gegen seinen Kopf. Er spürte den ansteigenden Druck.
Kim schätzte es, wenn er sich zurückhielt. Schätzte den in seinen Augen und Gesten niedergelegten Ausdruck der Beherrschung. Sie sah darin ein Versprechen. Der reißende Strom der Hormone war über die Jahre gezähmt, die Flüsse begradigt und Testosteronschleusen waren eingebaut worden. Es gab nur noch gelegentliche Überschwemmungen. Und so hatte er es in den Jahren gelernt, sich zu beherrschen. Er riss den Korken nicht mehr ungeduldig ab und die Flasche im gleichen Atemzug an den Hals. Er goss sein Begehren vorsichtig in ein tiefes Glas, schwenkte, schaute, roch, nahm einen Schluck und umkurvte damit all seine Geschmacksknospen. Wie ein Dompteur kontrollierte er das Spiel. Konnte geben und nehmen, warten und beobachten. Sah an ihren Härchen im Nacken, an den kleinen Schauern, die ihr über den Rücken liefen, am Tonus ihrer Bauchmuskeln, wann ihre Dämme brachen. Manchmal kam er sich dabei vor wie ein Zuschauer in der ersten Reihe, der durch seinen Applaus und dessen Zurückhaltung den Schauspieler auf der Bühne steuert. Und immer wieder auch so, als trenne ihn eine Glasscheibe von Fleisch, Blut, Haut und Wärme.
Während er unschlüssig dastand und seine Sachen sortierte, Hemd und Tuchhose glattstrich, war Kim aufgestanden und hatte sich Seidentop und BH abgestreift, die einzigen Kleidungsstücke, die sie noch am Körper trug. Er hatte ihr nachgeblickt, wie sie auf Zehenspitzen in Richtung Nasszelle getänzelt war. So selbstverständlich, wie das nur Frauen können, die sich täglich auf Stöckelschuhen durch die Welt bewegen. Ihr unverwechselbarer Duft umnebelte ihn, diese Wolke aus dunklen Gerüchen. Er hatte Rosen gerochen, Rosen kurz vor dem Verfall. Er hörte Wasser, das auf Marmor fiel, sah Kondenswolken, die aus der geöffneten Glastür quollen. Sie wusch die Minuten mit ihm durch den Abfluss ins Kanalsystem. Prasselnd wie kleine Nadeln fiel Regen auf großflächige Marmorfliesen, dann wieder ein Schwall wie aus einem Wasserfall. Er stand ein wenig verloren im Raum, blickte durch die schmalen Fenster in das Grau dieses Morgens. Die Nadeln reizten seine Nervenzellen, hatten ihn an Wagner denken lassen.
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