Einmal traf ich in der U-Bahn Norbert aus dem Sportverein. Er war um die fünfzig, arbeitete bei einer Bank und fragte mich, ob ich abends zum Aikidotraining kommen würde.
„Nein, ich kann mich nicht aufraffen. Mein neuer Job strengt mich so an. Ich muss mich erst mal ausruhen.“
Norbert schaute mich mitleidig an. „Was machst du denn jetzt?“
„Ich arbeite bei Gmooh. Das ist so eine Austauschorganisation.“
„Und was hast du davor gemacht?“, fragte er interessiert.
„Studiert.“
Norbert brach in schallendes Gelächter aus, klopfte mir auf die Schulter und meinte freundschaftlich: „Du wirst dich schon noch an das Arbeitsleben gewöhnen.“ Als er zwei Stationen später ausstieg, lachte er noch immer.
Missmutig ging ich zu meinem buddhistischen Lehrer, einem Lama 1, den ich während meines Studiums vor zwei Jahren kennengelernt und der mich schon durch verschiedene Lebensphasen begleitet hatte. Als jemand, der mich besser kannte als viele meiner Freunde, würde er bestimmt Verständnis für meine Not haben.
„Der Buddha hatte doch recht, als er sagte, dass das Leben Leiden ist“, sagte ich, als ich keuchend in der kleinen Kreuzberger Dachgeschosswohnung ankam, wo er seine Schüler empfing. In der Luft hing der Geruch von Räucherstäbchen und teurem After Shave.
„Hallo, Julika. Schön, dich zu sehen. Komm erst mal in Ruhe an.“
„Hallo, Lama Semky“, sagte ich völlig aus der Puste.
Da es außer einer Matratze und ein paar Bücherregalen in seinem Zimmer keinerlei Möbel gab, setzten wir uns im Schneidersitz auf den abgewetzten blauen Teppich. Mit ruhigen Bewegungen schenkte er jedem von uns eine Schale mit undefinierbarem Kräutertee ein.
„Soso, erst leidest du, weil du keinen Job hast. Und nun hast du einen Job und leidest wieder.“ Er lachte so herzlich, dass sein Bauch bebte.
Wenn ich den ganzen Tag nur im Lotossitz auf dem Kissen herumsitzen würde, wäre ich auch entspannt und heiter. Was weiß er schon von der zermürbenden Arbeitswelt, dachte ich empört.
„Ich sitze von neun bis sechs vor meinem PC und habe schon Rückenschmerzen! Nur wenn ich aufstehe, um aufs Klo zu gehen oder zum Kopierer, bekomme ich etwas Bewegung. Jeden Tag mache ich dasselbe. Alles wiederholt sich. Es fühlt sich an wie ein endloser, langweiliger Daseinskreislauf. Meinte der Buddha das, als er von Samsara 2sprach?“
Mein Lama lachte. „Ja, was du erlebst, ist in der Tat Samsara. Aber du weißt ja, Samsara und Nirvana 3sind nicht voneinander getrennt.“ Er hatte ein ansteckendes Lachen. Irgendetwas in mir wusste, dass er recht hatte, auch wenn ich nicht genau verstand, was er meinte. „Ich könnte mir auch nicht vorstellen, vierzig Stunden in einem Büro am Computer zu arbeiten. Aber betrachte es als Steilwand, als Training. Dadurch wirst du viele Qualitäten entwickeln, die dir auf deinem weiteren Weg hilfreich sein werden.“
„Welche Qualitäten meinst du? Alle Kandidaten sämtlicher Folgen von Deutschland sucht den Superstar zu kennen?“ Wir lachten wieder.
„Du lernst Disziplin durch frühes Aufstehen. Kein Rumtütteln mehr. Du lernst das vielfältige Leiden der Wesen kennen, und dadurch können Mitgefühl und Weisheit wachsen. Schau sie dir genau an, deine Kollegen, wie viel Leid sie hinter ihren Masken tragen. Wenn du das erkennst, wirst du auch dein eigenes Leid besser verstehen und andere später besser unterstützen können.“
„Aber was ist, wenn das der falsche Gipfel für mich ist? Ich besteige hier gerade den Gmooh-Gipfel, und wenn ich oben bin, merke ich, dass mein eigentlicher Gipfel ganz woanders steht?“
Bei diesem Gedanken wurde mir ganz schlecht. Ich hasste es, meine Energie für falsche Dinge zu verschwenden.
Mein Lama schaute mich mit wissendem Blick an. „Keine Sorge, Julika. Das ist der richtige Gipfel. Nur Mut! Und vergiss nicht: Der Weg beginnt immer da, wo man gerade ist.“
Während seine Worte in meinen Geist sickerten, ließ ich mich von seinen wohlgeformten muskulösen Oberarmen ablenken. Er war aus meiner Perspektive schon ziemlich alt, Mitte fünfzig, doch er hatte eine unglaubliche Ausstrahlung und einen durchtrainierten Körper. Irgendwie wirkten alle buddhistischen Lehrer, die ich kannte, unverschämt frisch und viel jünger, als sie tatsächlich waren. So, als würde durch das Meditieren nicht nur der Geist geklärt und gereinigt, sondern auch die Haut konserviert. Eigentlich eine günstige Alternative zu Botox und Schönheitsoperationen, doch das schien sich noch nicht herumgesprochen zu haben.
Bevor Lama Semky als buddhistischer Lehrer den Dharma 4zu lehren begonnen hatte, hatte er ein bürgerliches Leben geführt: Er war Sport- und Biologielehrer gewesen. Dann begegnete er einem großen Meditationsmeister, machte zwei traditionelle Drei-Jahres-Retreats, ließ sich zum buddhistischen Mönch ordinieren und reiste nun durch Deutschland und hielt Vorträge und Seminare. Offenbar konnte er von diesen Einnahmen auf Spendenbasis gut leben. Er war kein gewöhnlicher buddhistischer Lama, das heißt, er wirkte zumindest nicht so, wie ich mir einen vorgestellt hatte. In meiner Vorstellung lebten buddhistische Mönche fernab der Welt in ärmlichen Verhältnissen und sahen aus wie Imitate des Dalai Lama. Lama Semky sah aus wie James Dean ausgesehen hätte, wäre er in die Fünfziger gekommen. Er war modebewusst und trug die vorgeschriebenen dunkelroten und gelben Roben elegant drapiert um seinen Körper. Er hatte ein neues Handy, einen teuren Laptop und allerlei technische Gimmicks, die ich weder kannte noch verstand. Dies alles waren Geschenke seiner Schüler, die ihre Dankbarkeit und Hingabe ausdrücken wollten.
Unsere erste Begegnung hatte ein paar Jahre zuvor in einer Altbauwohnung in Kreuzberg stattgefunden, wo er ein Wochenendseminar mit dem Titel Liebe und Mitgefühl gegeben hatte. Meine Freundin Tina, zu diesem Zeitpunkt gerade Buddhistin geworden, hatte mich mit leuchtenden Augen überredet, diesen inspirierenden Lama einmal kennenzulernen.
„Wie spricht man denn so einen Lama an?“, fragte ich ehrfürchtig.
„Das ist alles ganz locker. Alle duzen ihn, und du wirst sehen, er ist extrem lässig.“
Als ich ihn sah, war ich sofort in seinem Bann. Diese strahlenden, klaren Augen, dieser offene, interessierte Blick und diese humorvolle Art trafen mich mitten ins Herz. Wir verstanden uns auf Anhieb und lachten über dieselben Dinge. Als er das nächste Mal in Berlin war, nahm ich bei ihm die buddhistischen Zufluchtsgelübde 5. Und nun saß ich regelmäßig in seiner Dachgeschosswohnung und führte stundenlange Gespräche mit ihm – nicht nur über den Buddhismus, sondern über alle Themen, die uns interessierten. Ob das ein normales Lehrer-Schüler-Verhältnis war, vermochte ich nicht zu sagen, da mir der Vergleich fehlte.
„Der Weg beginnt immer da, wo man gerade ist.“
Seine Worte hallten in mir nach, als ich in der U-Bahn saß. Um zu beginnen, wo man ist, muss man erst mal wissen, wo man ist, dachte ich. Wo war ich bei Gmooh gelandet?
Gmooh war ein Acronym für „Get me out of here“. Der Name war Programm, denn Gmooh vermittelte jährlich Hunderte von Menschen in alle Welt. Wenn man einen Gmoohler fragte, was Gmooh eigentlich tat, sagte er gern mit breitem Grinsen: „Menschenhandel!“ Um dem verdutzten Fragesteller dann zu erklären, dass dieser natürlich auf Freiwilligkeit basiere.
Jeden Morgen schritt ich unter den wachsamen Augen ehrwürdiger Stuckfiguren die mit rotem Teppich ausgelegte Treppe hinauf in den sechsten Stock eines Gründerzeithauses. Dabei hatte ich das Gefühl, vom Berlin meiner Gegenwart durch das 19. Jahrhundert zu einem völlig neuen Ort vorzudringen, der mit meinem Raum- und Zeitverständnis nichts zu tun hatte und wo eine mir unbekannte Mentalität und Kultur herrschte.
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