William Thackeray - Jahrmarkt der Eitelkeiten

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Der Gesellschaftsroman «Jahrmarkt der Eitelkeiten» zeichnet ein facettenreiches, alle sozialen Klassen einschließendes Bild der Londoner Gesellschaft zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Alle streben nach sozialem Aufstieg. William Makepeace Thackeray zeigt anhand mehrerer Lebensläufe, wann und warum der Weg nach oben glückt, und welche Charaktereigenschaften einem dabei im Wege stehen.
Dieses E-Book enthält eine vollständige deutsche Ausgabe des Romans «Jahrmarkt der Eitelkeiten» (Originaltitel: «Vanity Fair») von William Makepeace Thackeray.

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„Was für ein unschuldiger Mensch ist doch dein Liebling“, pflegte dann Miss Maria zu Miss Jane zu sagen, nachdem der Hauptmann gegangen war. „Hast du gesehen, wie er errötete, als ich erwähnte, dass der arme George Dienst tue?“

„Es ist jammerschade, dass Frederick Bullock nicht etwas von seiner Bescheidenheit besitzt, Maria“, erwiderte dann die ältere Schwester und warf den Kopf zurück.

„Bescheidenheit! Du meinst wohl, Unbehilflichkeit, Jane. Ich möchte nicht, dass Frederick mir ein Loch ins Musselinkleid tritt wie Hauptmann Dobbin dir, als wir bei Mrs. Perkin waren.“

„In dein Kleid, haha! Wie konnte er denn das? Hat er nicht mit Amelia getanzt?“

Die Sache verhielt sich aber so: Als Hauptmann Dobbin errötete und so verlegen aussah, erinnerte er sich eines Umstandes, den er den jungen Damen lieber verschweigen wollte, nämlich dass er bereits in Mr. Sedleys Haus gewesen war, natürlich unter dem Vorwand, George zu sehen. George aber war nicht dort, sondern bloß die arme kleine Amelia, die ziemlich traurig und gedankenvoll am Salonfenster saß und nach einigen belanglosen, einfältigen Worten zu fragen wagte, ob etwas Wahres an dem Gerücht sei, dass das Regiment ins Ausland gehen würde, und ob Hauptmann Dobbin Mr. Osborne an dem Tage schon gesehen habe?

Das Regiment hatte bis jetzt noch nicht den Befehl erhalten, und Hauptmann Dobbin hatte George nicht gesehen. „Höchstwahrscheinlich ist er bei seiner Schwester“, meinte der Hauptmann. „Soll ich den Säumigen holen gehen?“ Darauf reichte sie ihm freundlich und dankbar die Hand, und er ging über den Platz. Sie wartete und wartete, aber George kam nicht.

Armes, zartes Herzchen! Und so schlägt es weiter in Hoffen, Sehnen, Vertrauen. Man sieht, es wird hier kein besonderes Leben beschrieben, kein ereignisreiches Leben, den lieben langen Tag nur ein Gefühl – wann kommt er? Nur ein Gedanke im Wachen und im Schlafen. Ich glaube, George spielte mit Hauptmann Cannon in der Swallow Street Billard, als Amelia Hauptmann Dobbin nach ihm fragte; denn er war ein lustiger, geselliger Bursche und Meister in allen Geschicklichkeitsspielen.

Als er einmal drei Tage lang nicht bei ihr gewesen war, setzte sich Miss Amelia den Hut auf und drang wirklich in das Osbornesche Haus ein. „Wie! Sie lassen unsern Bruder allein und kommen zu uns?“ fragten die jungen Damen. „Haben Sie Streit mit ihm gehabt, Amelia? Erzählen Sie doch!“ Nein, sie hatten sich nicht gezankt. „Wer könnte sich schon mit ihm streiten!“ sagte sie. Sie sei bloß herübergekommen, um ihre teuren Freundinnen zu besuchen; sie hätten sich schon so lange nicht mehr gesehen. Und diesmal benahm sie sich so einfältig und unbeholfen, dass die beiden Miss Osborne und ihre Gouvernante, die ihr nachstarrten, als sie sich traurig entfernte, sich mehr denn je wunderten, was doch George an der armen kleinen Amelia finden könne.

Es war ganz natürlich, dass sie sich wunderten. Aber wie konnte Amelia auch nur jemals diesen jungen Damen mit den kalten schwarzen Augen ihr kleines, schüchternes Herz öffnen. Das beste war wohl, sie hielt es zurück und verbarg es. Ich weiß, dass die beiden Miss Osborne einen Kaschmirschal oder ein rosa Atlasunterkleid vortrefflich zu beurteilen verstanden; und wenn Miss Turner ihren rot färbte und sich einen Spenzer daraus machen ließ, oder wenn Miss Pickford ihren Hermelinkragen in einen Muff und Besatzstücke umarbeiten ließ, so garantiere ich, dass derartige Veränderungen den beiden intelligenten jungen Mädchen nicht entgingen. Aber sehen Sie, es gibt Dinge von feinerer Beschaffenheit als Pelzwerk und Atlas, alle Herrlichkeiten Salomos und die ganze Garderobe der Königin von Saba – Dinge, deren Schönheit manchem Kennerauge entgeht. Und es gibt süße, bescheidene Seelchen, die man duftend und lieblich blühend an ruhigen, schattigen Stellen trifft; und es gibt; prächtige Gartenblumen, so groß wie Messingwärmflaschen, welche durch ihre Blicke selbst die Sonne in Verlegenheit bringen können. Miss Sedley gehörte nicht zu dieser Art Sonnenblumen; und ich kann nur sagen, es verstößt gegen alle Regeln der Proportion, ein Veilchen so groß wie eine gefüllte Dahlie zu malen.

Nein, wirklich, im Leben eines braven jungen Mädchens, das sich noch im väterlichen Nest befindet, kann es nicht viele jener spannenden Ereignisse geben, auf die eine Romanheldin gewöhnlich Anspruch erhebt. Die alten Vögel, die draußen umherfliegen und Futter suchen, können Opfer von Schlingen oder Kugeln werden, oder es können Habichte draußen sein, denen sie entkommen oder zur Beute fallen. Aber die Nestjungen führen in Stroh und Daunen ein ganz bequemes, unromantisches Leben, bis auch sie flügge werden. Während Becky Sharp schon selbständig auf dem Lande herumflog und auf allen möglichen Zweigen und zwischen einer Menge Fallen herumhüpfte und ganz harmlos, aber erfolgreich ihr Futter aufpickte, lag Amelia behaglich in ihrem warmen Nest am Russell Square; begab sie sich in die Welt hinaus, so geschah es unter der Führung ihrer Eltern, und weder sie noch das reiche, freundliche und bequeme Haus, in dem sie so liebevoll beschützt wurde, schien ein Unglück treffen zu können. Die Mama hatte ihre Vormittagspflichten, ihre täglichen Ausfahrten und jene entzückende Besuchs- und Einkaufsrunde, die das Vergnügen, wie man es auch nennen kann, den Beruf der reichen Londonerin ausmacht. Der Papa führte seine geheimnisvollen Geschäfte in der City – ein lebhafter Ort in jenen Tagen, als der Krieg in ganz Europa wütete und Weltreiche auf dem Spiele standen; als eine Zeitung wie der „Courier“ ihre Abonnenten nach Zehntausenden zählte, als ein Tag die Schlacht von Vitoria, ein anderer den Brand von Moskau brachte; oder als zur Essenszeit ein Zeitungsverkäufer am Russell Square durch sein Horn verkündete: „Schlacht bei Leipzig – sechshunderttausend Mann beteiligt – totale Niederlage der Franzosen – zweihunderttausend Tote.“ Ein paarmal kam der alte Sedley mit sehr ernstem Gesicht nach Hause; kein Wunder, wenn solche Nachrichten alle Herzen und Börsen Europas in Bewegung setzten.

Unterdessen ging das Leben am Russell Square, Bloomsbury, weiter, als ob die Dinge in Europa nicht im geringsten in Auflösung begriffen wären. Der Rückzug von Leipzig brachte keine Veränderung in der Anzahl der Mahlzeiten mit sich, die Mr. Sambo in der Bedientenstube einnahm ; die Alliierten überfluteten Frankreich, und die Tischglocke läutete um fünf Uhr wie üblich. Ich glaube nicht, dass sich die arme Amelia um Brienne und Montmirail kümmerte oder sonstwie am Krieg interessiert war – bis der Kaiser abdankte. Da klatschte sie in die Hände und sprach voller Inbrunst Dankgebete und warf sich stürmisch in George Osbornes Arme, zum Erstaunen aller, die Zeuge dieser Gefühlsaufwallung waren. Friede war nämlich geschlossen, Europa sollte wieder zur Ruhe kommen; der Korse war gestürzt, und Leutnant Osbornes Regiment brauchte nicht zum Kriegsdienst auszurücken. Das waren Amelias Gedankengänge. Für sie war Leutnant George Osborne das Schicksal Europas. Da er außer Gefahr war, sang sie ein Tedeum. Für sie war er Europa, Kaiser, die alliierten Monarchen und der hohe Prinzregent. Er war ihre Sonne und ihr Mond; und ich glaube sogar, in ihren Augen waren die große Illumination und der Ball, der für die Herrscher im Mansion House gegeben wurde, nur zu Ehren George Osbornes arrangiert.

Wir haben von den traurigen Lehrmeistern Betrug, Eigennutz und Armut gesprochen, denen die arme Miss Becky Sharp ihre Erziehung verdankte. Die letzte Lehrerin von Miss Amelia Sedley dagegen war die Liebe gewesen, und es ist erstaunlich, welche Fortschritte unsere junge Dame unter dieser beliebten Lehrmeisterin machte. Im Laufe von fünfzehn bis achtzehn Monaten täglichen Unterrichts bei dieser ausgezeichneten Erzieherin lernte Amelia eine ganze Reihe von Geschehnissen kennen, von denen Miss Wirt und die schwarzäugigen Damen drüben, ja sogar die alte Miss Pinkerton in Chiswick keine Ahnung hatten! Woher sollten diese steifen und anständigen Jungfrauen auch etwas davon erfahren? Bei Miss P. und auch Miss W. kann von der süßen Leidenschaft keine Rede sein; ich würde es nicht wagen, eine solche Idee auch nur anzudeuten. Miss Maria Osborne „verkehrte“ zwar mit Mr. Frederick Augustus Bullock von der Firma Hulker, Bullock und Bullock; aber dieser „Verkehr“ war durchaus ehrbar, und ebenso gut hätte sie Bullock senior nehmen können, da sie sich nun einmal, wie jedes wohlerzogene junge Mädchen eigentlich sollte, auf ein Haus in der Park Lane, ein Landhaus in Wimbledon, eine schöne Kutsche mit zwei prächtigen Pferden und Lakaien sowie auf ein Viertel des Jahresgewinnes der ausgezeichneten Firma Hulker und Bullock versteift hatte – alles Vorteile, die in der Person des Frederick Augustus vereinigt waren. Wären damals schon die Orangenblüten erfunden gewesen, jene rührenden Symbole weiblicher Reinheit, die aus Frankreich zu uns kamen, wo die Leute ihre Töchter allgemein für die Ehe verkaufen, so hätte sich Miss Maria wohl den reinen Kranz aufs Haupt gesetzt, wäre an der Seite des alten gichtbrüchigen, kahlköpfigen, rotnasigen Bullock senior in den Reisewagen geklettert, hätte ihre schöne Erscheinung mit vollkommener Bescheidenheit seinem Glücke geopfert – wenn der alte Herr nicht leider bereits verheiratet gewesen wäre. So schenkte sie ihre Neigung dem jüngeren Teilhaber. Süße Orangenblüten! Neulich sah ich Miss Trotter (die ehemalige) mit ihnen geschmückt vor der Sankt-Georgs-Kirche am Hanover Square in den Reisewagen klettern, und Lord Methusalem hinkte hinter ihr her. Mit welch bezaubernder Schamhaftigkeit ließ sie die Vorhänge in der Kutsche herab – die liebe Unschuld! Die Hälfte aller Kutschen vom Jahrmarkt der Eitelkeit hatte sich zur Trauung eingefunden.

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