Im vorliegenden Fall lautete Miss Pinkertons Billett folgendermaßen:
Chiswick, The Mall, 15. Juni 18 ..
Madame – nach ihrem sechsjährigen Aufenthalt in der Mall habe ich die Ehre und das Vergnügen, Miss Amelia Sedley ihren Eltern als junge Dame vorzustellen, die nicht unwürdig ist, in deren glänzendem, gebildetem Kreise die ihr zukommende Stellung einzunehmen. Es mangelt der liebenswürdigen Miss Sedley nicht an jenen Tugenden, welche eine junge englische Dame von vornehmer Abkunft charakterisieren, jenen Kenntnissen, die ihrer Geburt und ihrem Stand entsprechen. Ihr Fleiß und Gehorsam haben sie ihren Lehrern lieb und wert gemacht, und ihr reizendes, sanftes Wesen hat ihre älteren und ihre jüngeren Gefährtinnen bezaubert.
In der Musik, im Tanzen, in der Orthographie, in allen Arten von Handarbeiten erfüllt sie wohl die sehnlichsten Wünsche ihrer Verwandten. In der Geographie bleibt noch manches zu wünschen übrig, und eine sorgfältige und unablässige Anwendung des Rückenbrettes, täglich vier Stunden in den nächsten drei Jahren, wird zur Erlangung jener würdevollen Haltung empfohlen, die für eine junge Dame von Welt erforderlich ist.
In den Grundsätzen der Religion und Moral wird sich Miss Sedley einer Anstalt würdig erweisen, die durch die Gegenwart des großen Lexikographen und die Gönnerschaft der bewunderungswürdigen Mrs. Chapone geehrt worden ist. Bei ihrem Scheiden von der Mall nimmt Miss Amelia die Herzen ihrer Gefährtinnen und die liebevolle Hochachtung ihrer Lehrerin mit sich, welche die Ehre hat zu zeichnen als
Ihre gehorsamst ergebene Dienerin Barbara Pinkerton.
PS: Miss Sharp begleitet Miss Sedley. Es wird ausdrücklich gebeten, dass Miss Sharp ihren Aufenthalt am Russell Square nicht länger als zehn Tage ausdehnt. Die vornehme Familie, die sie eingestellt hat, wünscht ihre Dienste baldmöglichst in Anspruch zu nehmen.
Als Miss Pinkerton diesen Brief beendet hatte, schrieb sie ihren und Miss Sedleys Namen auf das Vorsatzblatt eines Exemplars von Johnsons Wörterbuch, jenem interessanten Werk, welches sie jeder Schülerin beim Ausscheiden zu überreichen pflegte. Auf dem Deckel des Buches konnte man die „Zeilen an eine junge Dame bei ihrem Abgang von Miss Pinkertons Schule in der Mall, von dem seligen, hochverehrten Doktor Samuel Johnson“ lesen. In der Tat führte diese majestätische Dame den Namen des Lexikographen ständig auf den Lippen, und ein Besuch, den er ihr abgestattet hatte, war die Ursache ihres Rufes und ihres Vermögens geworden.
Nachdem Miss Jemima von ihrer älteren Schwester aufgefordert worden war, „das Wörterbuch“ aus dem Schrank zu holen, hatte sie dem erwähnten Behältnis zwei Exemplare entnommen. Als Miss Pinkerton die Widmung in das erste geschrieben hatte, reichte ihr Jemima mit zweifelnder und schüchterner Miene das andere.
„Für wen soll das sein, Miss Jemima?“ fragte Miss Pinkerton äußerst kühl.
„Für Becky Sharp“, erwiderte Jemima, heftig zitternd, und ihr welkes Gesicht wurde rot bis zum Halse, als sie ihrer Schwester den Rücken wandte. „Für Becky Sharp, sie geht ja auch.“
„MISS JEMIMA!“ rief Miss Pinkerton in den größten Großbuchstaben. „Bist du bei Sinnen? Stell das Wörterbuch in den Schrank zurück und wage in Zukunft nicht mehr, dir eine solche Freiheit herauszunehmen!“
„Ach, Schwester, es kostet doch nur zwei Shilling und neun Pence, und die arme Becky wird sich grämen, wenn sie keins bekommt.“
„Schick Miss Sedley sofort zu mir“, sagte Miss Pinkerton. Und so eilte die arme Jemima, verwirrt und ängstlich, ohne noch ein Wort zu wagen, davon.
Miss Sedleys Vater war ein ziemlich vermögender Kaufmann in London, während Miss Sharp Lehrschülerin war, für die Miss Pinkerton genug getan zu haben glaubte, auch ohne ihr beim Scheiden die hohe Ehre des Wörterbuches zuteilwerden zu lassen.
Briefe von Schulvorsteherinnen sind kaum vertrauenswürdiger als Grabinschriften; wie es aber doch bisweilen vorkommt, dass ein Mensch das Zeitliche segnet und die Lobpreisungen des Steinmetzen über seinen Gebeinen verdient, also wirklich ein guter Christ, ein guter Vater, ein gutes Kind, eine gute Ehefrau oder ein guter Ehemann gewesen ist, also wirklich eine seinen Tod betrauernde, verzweifelte Familie hinterlässt, so kommt es auch hin und wieder in Mädchen- oder Knabenschulen vor, dass der Schüler die Lobpreisungen des selbstlosen Lehrers verdient. Miss Amelia Sedley nun war eine junge Dame dieser besonderen Art und verdiente nicht nur alles, was Miss Pinkerton zu ihrem Lobe sagte, sondern besaß noch viele andere liebenswerte Eigenschaften, die die wichtigtuerische alte Minerva von einem Weibe infolge des Rang- und Altersunterschiedes zwischen ihr und ihrer Schülerin nicht zu sehen vermochte. Denn Amelia konnte nicht nur singen wie eine Lerche oder eine Billington, tanzen wie Hillisberg oder Parisot, prächtig sticken und war fehlerfrei in der Rechtschreibung wie das Wörterbuch selbst, sondern sie besaß auch ein so gutes, freundliches, weiches, sanftes, großmütiges Herz, dass sie die Liebe von jedermann in ihrer Umgebung gewann, von der Minerva bis herab zu der armen Scheuermagd und der Tochter der einäugigen Kuchenfrau, die den jungen Damen in der Mall ihre Ware einmal in der Woche verkaufen durfte. Von den vierundzwanzig jungen Damen waren zwölf ihre Busenfreundinnen. Sogar die neidische Miss Briggs sprach nie schlecht von ihr; die hoch-wohlgeborene Miss Saltire (Lord Dexters Enkelin) gab zu, dass sie eine elegante Erscheinung sei, und bei Miss Swartz gar, der reichen wollhaarigen Mulattin von Saint Kitts, erlebte man an dem Tage, als Amelia die Schule verließ, einen solchen Tränenausbruch, dass man nach Doktor Floss schicken und sie mit Riechsalz halb betäuben musste. Miss Pinkertons Zuneigung war ruhig und würdevoll, wie die hohe Stellung und die hervorragenden Tugenden dieser Dame nicht anders erwarten ließen; aber Miss Jemima hatte bei dem bloßen Gedanken an Amelias Abreise schon mehrmals geschluckt, und wäre nicht die Furcht vor ihrer Schwester gewesen, so hätte sie hysterische Anfälle bekommen wie die (doppelt zahlende) Erbin von Saint Kitts. Einen solchen Luxus mit seinem Schmerz zu treiben ist indessen nur besonders bevorzugten Schülerinnen gestattet. Die ehrliche Jemima dagegen hatte die Oberaufsicht über die Rechnungen, das Waschen und Ausbessern, die Puddings, das silberne und das einfache Geschirr sowie über die Dienerschaft. Aber warum sprechen wir von ihr: wahrscheinlich werden wir bis in alle Ewigkeit nichts mehr von ihr hören, und weder sie noch ihre ehrfurchtgebietende Schwester wird jemals wieder in der kleinen Welt unserer Geschichte auftauchen, wenn sich erst einmal das große, verschnörkelte, eiserne Tor geschlossen hat.
Da wir indessen viel über Amelia erfahren werden, kann es nichts schaden, wenn wir gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft sagen, dass sie eines der besten und liebenswürdigsten Geschöpfe war, die je lebten, und es ist ein Segen, dass wir, da es sowohl im Leben als auch in Romanen (und in diesen besonders) von Bösewichten der schlimmsten Sorte nur so wimmelt, solch einen ehrlichen und gutherzigen Menschen zur Seite haben. Da sie keine Heldin ist, brauchen wir ihre Person nicht zu beschreiben; ich befürchte sogar, dass ihre Nase etwas zu klein und ihre Wangen viel zu rund und rot für eine Heldin waren; aber ihr Gesicht strahlte von blühender Gesundheit, und auf ihren Lippen lag das munterste Lächeln; sie hatte ein Paar Augen, die von lebhafter und ehrlicher guter Laune blitzten, wenn sie sich nicht gerade mit Tränen füllten, und das geschah in der Tat viel zu oft, denn das einfältige Ding konnte über einen toten Kanarienvogel oder über eine Maus, die die Katze gefangen hatte, oder über den Schluss eines Romans, war er auch noch so albern, weinen; und sagte man ihr ein unfreundliches Wort – vorausgesetzt, es fand sich jemand, der so hartherzig war –, umso schlimmer war es dann für diesen. Sogar Miss Pinkerton, diese strenge und göttergleiche Dame, schalt sie nur einmal, und obgleich sie von Gefühlen ebenso wenig verstand wie von Algebra, gab sie allen Lehrern den ausdrücklichen Befehl, mit Miss Sedley so sanft wie möglich umzugehen, da diese eine raue Behandlung nicht vertrage.
Читать дальше