So standen die Dinge, als der Wagen über die Westminsterbrücke fuhr.
Die Gesellschaft kam zur festgesetzten Zeit an den Königlichen Gärten an. Als der majestätische Joe aus dem knarrenden Fahrzeug stieg, begrüßte die Menge den dicken Herrn stürmisch, der daraufhin errötete und sehr groß und gewichtig wirkte, als er mit Rebekka am Arm davonschritt. George nahm sich natürlich Amelias an. Sie sah so glücklich aus wie ein Rosenstock im Sonnenschein.
„Dobbin“, sagte George, „sei doch bitte so gut und kümmere dich um die Schals und die anderen Sachen.“ So mußte der ehrliche Dobbin sich begnügen, während George und Miss Sedley davongingen und Joe sich mit Rebekka durch das Gartentor zwängte, seinen Arm den Schals zu geben und am Eingang für die ganze Gesellschaft zu bezahlen.
Bescheiden folgte er ihnen; er war kein Spielverderber. Um Rebekka und Joe kümmerte er sich keinen Pfifferling. Amelia dagegen hielt er sogar des brillanten George Osborne für würdig, und während er das hübsche Paar die Wege auf und ab gehen sah und des Mädchens Vergnügen und ihre Bewunderung bemerkte, beobachtete er ihre unschuldige Glückseligkeit mit einer Art väterlicher Freude. Vielleicht fühlte er auch, dass er gern etwas anderes als einen Schal am Arm gehabt hätte (die Leute lachten über den linkischen jungen Offizier mit dieser weiblichen Bürde), aber William Dobbin hatte keinen Hang zu selbstsüchtigen Plänen; und wie sollte er unzufrieden sein, solange sein Freund sich gut unterhielt? Und dabei nahm Hauptmann Dobbin von allen Herrlichkeiten des Gartens keine Notiz; nicht von den hunderttausend Lampen, die ständig brannten; nicht von den Geigern mit Dreispitz, die unter einer vergoldeten Muschel in der Mitte des Gartens hinreißende Melodien spielten; nicht von den Sängern, die mit lustigen und sentimentalen Balladen das Ohr entzückten; nicht von den Volkstänzen, die stramme Londoner und Londonerinnen mit Sprüngen, Stampfen und unter Lachen tanzten; nicht von dem Ausrufer, der verkündete, dass Madame Saqui sogleich auf einem bis zu den Sternen reichenden Schlappseil himmelan steigen würde; nicht von dem Einsiedler, der ständig in der erleuchteten Einsiedelei saß; nicht von den dunklen Wegen, die so geeignet waren für Liebesgeflüster junger Leute; nicht von den Bierkrügen, die schäbige alte Livrierte herumreichten, und nicht von den funkelnden Lauben, wo glückliche Schmauser glauben machten, sie verzehrten fast unsichtbare Schinkenschnitten. Von all diesem und auch von dem sanften Simpson, diesem freundlichen, lächelnden Idioten, der wohl, glaube ich, schon zu jener Zeit an der Spitze des Ganzen stand, nahm Hauptmann William Dobbin, wie gesagt, nicht die mindeste Notiz.
Er trug Amelias weißen Kaschmirschal mit sich herum, und nachdem er unter der vergoldeten Muschel zugehört hatte, wie Mrs. Salmon die „Schlacht von Borodino“ sang (eine wilde Kantate gegen den korsischen Emporkömmling, den kürzlich in Rußland sein Schicksal ereilt hatte), versuchte Mr. Dobbin im Weitergehen, die Melodie zu summen, ertappte sich aber dabei, dass er die Melodie summte, die Amelia Sedley auf der Treppe gesungen hatte, als sie zum Essen herunterkam.
Er mußte über sich selber lachen, denn in Wahrheit sang er nicht besser als eine Eule.
Es versteht sich von selbst, dass unsere beiden jungen Paare sich aufs feierlichste versprachen, während des ganzen Abends beisammenzubleiben, und sich zehn Minuten später schon trennten. Gesellschaften trennten sich schon immer in Vauxhall und trafen sich beim Abendessen wieder, wo sie sich die unterdessen erlebten Abenteuer erzählen konnten.
Welche Abenteuer hatten Mr. Osborne und Miss Amelia erlebt? Das ist ein Geheimnis. Der Leser mag aber überzeugt sein, dass sie sich vollkommen glücklich fühlten und ihr Betragen äußerst korrekt war. Da sie seit fünfzehn Jahren fast ständig zusammen gewesen waren, so bot ihr Tête-à-tête nicht viel Neues.
Als aber Miss Rebekka Sharp und ihr korpulenter Gefährte sich in einem einsamen Weg verloren, in dem kaum mehr als acht Dutzend andere Paare wie sie umherschlenderten, fühlten beide, dass die Situation äußerst delikat und kritisch sei, und jetzt oder nie, dachte Miss Sharp, sei der Augenblick für die Erklärung, die auf Mr. Sedleys schüchternen Lippen schwebte. Im Panorama von Moskau, wo sie vorher gewesen waren, war ein roher Bursche Miss Sharp auf den Fuß getreten, so dass sie mit einem kleinen Schrei in Mr. Sedleys Arme zurückgefallen war; und dieser kleine Vorfall steigerte die Zärtlichkeit und das Selbstvertrauen des Herrn so sehr, dass er ihr verschiedene von seinen besten indischen Geschichten mindestens zum sechsten Male erzählte.
„Ach, wie gern möchte ich einmal nach Indien!“ seufzte Rebekka.
„Wirklich?“ erkundigte sich Joseph mit überwältigender Zärtlichkeit und wollte zweifellos dieser sinnreichen Frage eine noch zärtlichere folgen lassen (denn er schnaufte und keuchte gewaltig, und Rebekka konnte mit der Hand, die sich nicht weit von seinem Herzen befand, die fieberhaften Schläge dieses Organs zählen), als – ach, wie ärgerlich! – die Glocke zum Feuerwerk ertönte und mit einmal ein großes Geschiebe und Gerenne einsetzte, so dass auch unser interessantes Liebespaar gezwungen war, dem Menschenstrom zu folgen.
Hauptmann Dobbin hatte eigentlich die Absicht gehabt, sich beim Abendessen wieder der Gesellschaft anzuschließen, da er die Belustigungen von Vauxhall wirklich nicht besonders reizvoll fand – aber er ging zweimal an der Laube vorbei, wo die jetzt vereinigten Paare beisammensaßen, ohne dass jemand Notiz von ihm nahm. Es war für vier Personen gedeckt. Die beiden Paare plauderten munter, und Dobbin wußte, dass sie ihn so vollständig vergessen hatten, als habe er auf dieser Welt nie existiert.
„Ich würde nur de trop sein“, sagte der Hauptmann und blickte ziemlich sehnsüchtig zu ihnen hin. „Das beste ist wohl, ich gehe und unterhalte mich mit dem Einsiedler“, und so zog er sich aus dem Stimmengesumm, Lärm und Besteckgeklapper zurück in den dunklen Weg, an dessen Ende der berühmte Papp-Einsiedler hauste. Es war nicht besonders kurzweilig für Dobbin, und tatsächlich weiß ich aus eigener Erfahrung, dass das Alleinsein in Vauxhall für einen Junggesellen eines der traurigsten Vergnügen ist.
Die beiden Paare in ihrer Laube unterhielten sich äußerst angeregt und vertraulich und waren vollkommen glücklich. Joe strahlte in seiner ganzen Herrlichkeit und gab den Kellnern majestätisch unaufhörlich Anweisungen. Er machte den Salat an, entkorkte den Champagner, zerlegte das Geflügel und aß und trank den größten Teil der aufgetragenen Erfrischungen. Zum Abschluß mußte er noch einen Arrakpunsch trinken; jedermann in Vauxhall trinkt Arrakpunsch. „Kellner, Arrakpunsch!“
Diese Bowle Arrakpunsch war der Anlaß zu der ganzen Geschichte; und warum soll nicht eine Bowle Arrakpunsch ein ebenso guter Anlaß sein wie jeder andere? War nicht eine Schale mit Blausäure der Grund, weshalb die schöne Rosamunde sich von der Welt zurückzog? War nicht ein Becher Wein die Ursache für das Ableben Alexanders des Großen? (Zumindest behauptet es Dr. Lempriere.) Nun beeinflußte dieser Arrakpunsch das Schicksal sämtlicher Hauptpersonen in diesem „Roman ohne Helden“, den wir jetzt erzählen. Er wirkte auf ihr ganzes Leben ein, obgleich die meisten von ihnen keinen Tropfen davon kosteten.
Die jungen Damen tranken keinen; Osborne mochte ihn nicht, und folglich trank Joe, der dicke Prasser, den Inhalt der Bowle allein aus; und die Folge davon wiederum war eine anfangs staunenerregende, dann fast peinliche Heiterkeit; denn er sprach und lachte so laut, dass sich Dutzende Neugieriger um die Laube scharten, sehr zum Leidwesen der harmlosen Gesellschaft drinnen, und als Joe schließlich anfing zu singen, und zwar in den rührseligen hohen Tönen Betrunkener, lockte er den Musikanten unter der vergoldeten Muschel fast das gesamte Publikum weg und erntete von seinen Zuhörern ungeheuren Beifall.
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