Einmal erwischte die Deutschlehrerin Frau Fuß sie dabei, wie alle Schülerinnen in Trauben um Carolins Pult standen und ihr dabei zusahen, wie sie an dem Stil einer Haarbürste ihr Wissen in Sachen Oralverkehr unter Beweis stellte. Frau Fuß hatte eine Weile unbeobachtet in der Tür gestanden und sich sicher gewünscht, wenigstens einmal in ihrem Leben eine solche Aufmerksamkeit bei ihren Schülerinnen zu genießen. Zum Glück war Frau Fuß nicht nur die dickste Lehrerin, sondern auch die coolste der ganzen Schule. Man merkte ihr an, dass sie am liebsten laut losgelacht hätte, aber sie riss sich zusammen und meinte nur schmunzelnd in ihrem tiefbayerischen Dialekt „Merkt‘s eich oans: Wer net ko, der red davo!“ Die Mädchen wussten natürlich sofort, was Frau Fuß damit sagen wollte, doch damals waren sie überzeugt davon, dass Carolin mit ihren vierzehn Jahren schon ein sehr erfahrenes Mädchen in Liebesdingen war. Zumindest hatte sie schon der Hälfte der Klasse den Zungenkuss beigebracht. Anna dachte amüsiert an die Zeit in ihrer Oberpfälzer Klosterschule zurück und daran, dass Carolin mittlerweile zu einer allseits beliebten und couragierten Pfarrerin in einem Kaff in Oberbayern geworden ist. Warum aber dachte sie jetzt gerade an diese Binsenweisheit von Frau Fuß? Sollte sie nur deshalb so aufregende sexistische Storys schreiben können, weil sie wie eine Nonne lebte? Würden ihre Ideen versiegen, wenn sie selbst wieder einmal ausleben konnte, was sie wöchentlich zum Besten gab? Anna beschloss, sich in den nächsten Wochen komplett auf ihre Arbeit zu konzentrieren und die Männer Männer sein zu lassen. Und außerdem: Wer kam schon in Frage? Mr. Superspießer, der ein echter Vollidiot war, wie sich ja gerade erst herausgestellt hatte, aber bei Licht besehen ein durchaus attraktiver Mann war und mit Sicherheit den schönsten Hintern der Stadt hatte? Oder Pompejus mit den dunkelbraunen Augen und den schönsten Händen der Welt? Oder etwa Luigi, der kürzlich Anna lauthals und zu Lolos großer Enttäuschung zur aufregendsten Frau der Stadt gekürt hatte? Und wann bitteschön sollte sie überhaupt einen Mann kennenlernen, wo sie doch seit Monaten keine Bar mehr von innen gesehen hatte! Die Wahrscheinlichkeit, dass ein interessanter Mann plötzlich an ihrer Tür klopfte, war ungefähr so groß wie Lolos Chancen, einen Kerl zu finden, der etwas anderes im Sinn hatte als ihren phänomenalen Körper. Anna seufzte. Es blieb ihr also gar nichts anderes übrig, als sich weiterhin warme Gedanken zu machen und sich den Verzicht auf ein Liebesleben so teuer wie möglich bezahlen zu lassen.
Am Abend kam Moritz überraschend zu Besuch. Einmal mehr fiel Anna auf, dass dieser Mann stets aussah, als wäre er gerade einem Managermagazin entsprungen. Wie immer trug er einen Hand genähten Anzug, elegante Schuhe der Marke Alden, eine geschmackvolle Krawatte und darüber ein Siegerlächeln unter dunkelblonden Strähnen, die ihm verwegen über die hellblauen Augen fielen. Ein bisschen erinnerte er sie an die intelligente Version von Prinz Charming aus dem Film „Shrek“. Sie bemerkte, dass an seiner rechten Hand eine neue Jaeger LeCoulte baumelte und die Manschettenknöpfe scheinbar passend zur Uhr entworfen wurden. Der Mann überließ nichts dem Zufall. Er drückte ihr einen herzlichen Kuss auf die Wange und schon stürmten die Mädchen heran und sprangen an ihrem Papa hoch, als hätten sie ihn jahrelang nicht gesehen. Wie so oft in letzter Zeit kamen bei Anna leichte Zweifel auf, ob es richtig gewesen war, diesem Mann den Laufpass zu geben. Nicht nur, dass die Mädchen ihren Vater oft vermissten, sie hätte an seiner Seite ein sorgenfreies Leben haben können. Aber dann rief sie sich ihre vielen einsamen Abende in Erinnerung, seine Extratouren mit immer neuen Assistentinnen, die ständigen Streitereien, die sie im Laufe der Jahre zu einer hysterischen Furie gemacht hatten. Sie stellte ihn sich in Unterhosen vor dem Fernseher vor oder laut schnarchend neben ihr im Bett. Er hatte es geschafft, das Schlechteste aus ihr heraus zu holen und das durfte sie nie vergessen. Niemals! Anna lächelte milde. Jetzt wusste sie wieder, dass die Trennung nichts war, was sie herbei geführt oder forciert hatte, sondern einfach nur eine Tatsache, die schon länger existiert hatte und irgendwann nur noch ausgesprochen werden musste. Sie hatte diesen Schritt getan und noch heute war sie stolz auf sich und freute sich über ihre Charakterstärke, ohne die sie die Scheidung niemals hätte durchziehen können. Moritz war ein viel zu starker Mensch, als dass er kampflos das Feld geräumt hätte. Obendrein war er ein kluger Mann, der genau wie sie davon überzeugt war, dass die Mädchen ein Recht auf eine intakte Familie hatten und dass eine Trennung, egal wie gut und diszipliniert sie über die Bühne ging, immer eine defizitäre Angelegenheit für die Kinder war. Anna erinnerte sich an den Abend, als ihre Lisa das erste Mal wissen wollte, warum der Papa nicht mehr nach Hause kam und warum plötzlich alles anders war als vorher. Obwohl sich Anna auf diese Frage vorbereitet hatte, war ihr vollkommen klar, dass es keine statthafte Antwort gab. Sie war nicht fähig, ihrer Tochter in die Augen zu blicken und hatte mit matter Stimme erklärt, dass es manchmal besser sei, sich zu trennen, wenn man sich nicht mehr richtig lieb hatte. Sie war gezwungen, ihrem Kind etwas zu erklären, das in keinster Weise zumutbar war. Mit Bitterkeit erinnerte sich Anna daran, wie sie ihrer Tochter an diesem Abend den Gutenachtkuss auf die Stirn gedrückt hatte. Wie immer hatte sie beim Verlassen des Zimmers gesagt: „Ich hab dich lieb!“
Moritz riss sie aus ihren trübseligen Gedanken. „Also Sweety, wie sieht‘s jetzt aus mit den Herbstferien. Dürfen die Mädels mit?“ Ganz klar, dass Lisa und Carlotta sofort wild durch die Küche hüpften und bei der Aussicht auf Ferien mit Papa völlig aus dem Häuschen waren. „Ja, natürlich dürft ihr mit“, versuchte Anna sie zu beruhigen und schon wieder spürte sie diesen schmerzenden Stich in der Brust. Moritz sah sie verständnisvoll an. „Ich weiß, wie schwer dir das fällt, und umso dankbarer bin ich, dass wir das so gut hinkriegen. Glaub mir, ich habe auch schon einen Horror davor, dass eines Tages ein anderer Kerl hier einzieht und mit meinen Mädchen am Frühstückstisch sitzt. Aber das wird sich wohl nicht aufhalten lassen.“ Er seufzte und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Erst jetzt bemerkte sie, dass Moritz den gleichen Schmerz verspürt haben musste wie sie, denn plötzlich hatte er einen ganz verlorenen Gesichtsausdruck und sah richtig alt aus. „Ach, komm schon“, meinte sie ermunternd, „deine Ängste sind doch absolut unbegründet. Wie sollte ich schon einen Mann kennen lernen! Ich sitze den ganzen Tag vor dem Computer und der einzige Mann in meinem Leben ist der Postbote. Da müsste schon jemand kommen wie Adrian Monk und das ist ziemlich unwahrscheinlich, meinst du nicht?“ Endlich lächelte Moritz wieder sein Strahlemannlächeln. „Schaust du dir die Serie immer noch so gerne an?“ Sie nickte. „Ja, obwohl Monk jetzt eine neue Assistentin hat, aber an die gewöhne ich mich auch noch.“ „Ach was, der hat eine neue Assistentin? Nicht mehr die sympathische mit der Dauerwelle, die immer in den schrecklichen und viel zu engen Klamotten herum läuft?“ Anna kicherte. „Nein, aber wo wir mal wieder so gemütlich zusammensitzen, wie geht es denn dir eigentlich? Geschäftlich, privat und überhaupt!“ Er lächelte breit und zeigte ihr seine kürzlich vom berühmten Dr. Seehofer sanierten, perfekten Zahnreihen. „Alles in Ordnung, fast schon unheimlich ungetrübt möchte ich sagen. Die Geschäfte laufen wie am Schnürchen, Sabine ist endlich mal wieder so eine Frau nach meinem Geschmack und gesundheitlich, psychisch, philosophisch steht es ebenfalls zum Besten. Stell dir vor, ich habe eine Frau gefunden, die mindestens genauso karrieregeil und machtorientiert ist wie ich und deshalb nicht einen Halbsatz darüber verliert, wenn ich im Urlaub das Telefon nicht aus der Hand lege. Manchmal bin ich so zufrieden, dass ich fürchte, ich kriege irgendwann die Quittung für so viel Glück.“
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