Sein Lächeln mit den weißen Zähnen im Dreitagesbart war ihr Dank genug. Doch als er auch heute wieder nur ein Lächeln und mehrere Rechnungen vorweisen konnte, hatte sie kein gutes Wort für ihn übrig. „Im Altertum wurden Überbringer schlechter Nachrichten umgebracht, wussten Sie das?“ Klar wusste er das. „Aber wissen Sie, wieso die Leute heute keinen mehr umbringen wegen einer schlechten Nachricht?“, wollte er wissen. „Keine Ahnung.“ Er setzte ein altkluges Lächeln auf, „vielleicht wegen des Freundes von Pablo Neruda oder wegen des Liedes aus der Winterreise mit dem Posthorn. Oder einfach, weil die Hoffnung auf den nächsten Tag eben doch größer ist als die Bereitschaft, für einen Postbotenmord in den Knast zu wandern.“ Sie lächelte ihm hinterher, als er mit seinem lahmen Bein davon schlurfte. Wie er sich damit so aufrecht und elegant bewegen konnte, war ihr ein Rätsel. Das Lied aus der Winterreise kannte sie, das war schön. Manchmal ließ das Leben für einen Moment seinen Zauber durchschimmern. Von der Straße her ein Posthorn klingt. Was hat es, dass es so hoch aufspringt, mein Herz? Die Post bringt keinen Brief für dich. Was drängst du denn so wunderlich, mein Herz?
Als sie oben in der Wohnung die Briefe öffnete, war der Zauber verflogen. Sie fragte sich, warum sie die Post überhaupt noch öffnete, es stand sowieso immer das Gleiche drin. Die erste Mahnung, die letzte Mahnung, die freundliche Aufforderung: „Bestimmt ist es Ihnen entgangen ..“ Ihre Tochter Lisa kam um die Ecke geflitzt und schmiegte sich an ihr Bein. „Lass mich mein Schatz, Mama muss noch arbeiten, willst du nicht ein bisschen fernsehen? „Au ja, au ja“, Lisa lachte laut und sprang ins Wohnzimmer. Das Lied von Bob der Baumeister schallte durch die Wohnung. Bob der Meister! Können wir das schaffen? Bauarbeiter! Yo, wir schaffen das!
Es klingelte und Lolo stand vor der Tür. Lolo, die eigentlich Brigitte hieß und sich irgendwann in Lolo umbenannt hatte. Der Name passte zu ihr, sie war eine schreckliche Person, lasziv, manchmal ein bisschen primitiv und hochgradig nymphoman. Sie ging prinzipiell nie ohne dickes Make-up vor die Tür und auf ihren Pfennigabsätzen kam sie so divenhaft daher gestöckelt, dass sich jeder Mann nach ihr umdrehte. Und Lolo liebte die Männer – so sehr, dass sie sich jede Woche einen neuen gönnte. Ihre Bildung ließ zu wünschen übrig, was sicherlich nicht an mangelnder Intelligenz lag, sondern daran, dass sie sich ausschließlich mit Mode- und Fitnessmagazinen beschäftigte. Aber Anna liebte sie. Für sie war sie die beste Freundin und überhaupt der tollste und ehrlichste Mensch, den sie kannte. Sie war außerdem die Einzige, die ihr bei der Trennung von Moritz beigestanden hatte. Kurzum: Anna ließ nichts auf Lolo kommen.
Im Grunde hatte Lolo nur zwei Probleme: ihre latente Geldnot und ihr zu flach geratener Hintern. Sie trug deshalb nie eine Tasche bei sich, sondern stopfte sich die Hintertaschen ihrer hautengen Hosen mit allerlei Zeugs voll. Für Lolo eine äußerliche Beschreibung abzugeben, war beinahe unmöglich, da sie ihre Haarfrisuren und -farben wechselte wie ihre Männerbekanntschaften. Heute erschien sie mit einem karmesinroten Pagenkopf und einer hochgeschlossenen, weißen Bluse über einer schwarzen Stretchjeans. Sie verpasste Anna einen übermütigen Schmatz auf die Wange und bevor sie ihr Hinterteil elegant auf dem Stuhl platzierte, musste sie wie immer erst einmal ihre Habseligkeiten aus den Hosentaschen kramen und auf den Tisch legen. Handy, Zigaretten, Feuerzeug, Geldbeutel, Lippenstift, Autoschlüssel und so einiges mehr. „Hey, Süße“, zwitscherte sie und Anna wischte sich das nach Erdbeeraroma duftende Lipgloss von der Wange, „ich hab unten deinen Briefträger getroffen, Mannomann, von dem würde ich mir auch gerne mal die Post bringen lassen. Kannst du den nicht mal bei mir vorbeischicken?“ Sie grinste breit und entblößte ihre herrlichen Zähne. „Ach Lolo“, Anna winkte ab, „was willst du denn mit einem Briefträger, du suchst doch im Grunde nur einen Prinzen, der dir ein angenehmes Leben bereitet und obendrein noch witzig, großzügig und einfallsreich im Bett ist. Was willst du denn ständig mit deinen DJs, Taxifahrern, Postboten und, was war noch mal der von letzter Woche, Kfz-Mechaniker – oder?“ Lolo lachte: „Ja, richtig, der Autoschlosser, ein prima Kerl! Mensch lass mich doch, es muss doch zwischen den Hauptgängen auch hin und wieder ein leckeres Sorbet geben. So was Zitroniges, Leichtes, das Appetit auf mehr macht. Verstehst du?“ Anna stöhnte. „Ja, aber dein ganzes Leben besteht aus Sorbet, soviel, dass einem vom Zuschauen schon schlecht wird. „He, he, he, jetzt reicht‘s aber!“ Lolo hob drohend ihre rot lackierten Zeigefinger. „Du musst deine schlechte Laune nicht an mir auslassen. Außerdem habe ich eine Überraschung für dich, schau mal! Mit zwei Fingern griff sie in ihre Hosentasche und zog einen 200-Euro-Schein heraus, den sie triumphierend in die Höhe hielt und im Gegenlicht auf seine Echtheit hin überprüfte. Anna lächelte. „Wow, ich habe schon lange nicht mehr soviel Geld gesehen, was hast du denn damit vor?“ Lolo lächelte verschwörerisch. „Pass auf, du setzt dich jetzt an deinen Schreibtisch und arbeitest und ich geh mit den Mädels einkaufen. Der Babysitterin kannst du für heute absagen, weil ich nämlich zur Feier des Tages mit den Mädchen kochen werde: Kalbsrouladen, Kartoffelpüree, Salat und zum Nachtisch Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Hmmm, mir läuft schon jetzt das Wasser im Mund zusammen. Und gute Zigaretten kauf ich uns auch und wenn du willst einen schönen Prosecco.“ Sie lachte. „Jippie, das Leben ist schön. Und dich möchte ich bis zum Mittagessen nicht in der Küche sehen, du arbeitest jetzt in aller Ruhe und zeigst der Welt, dass sie auf eine so tolle Journalistin wie dich nicht verzichten kann!“ Anna schaute ihre Freundin dankbar an und ließ sich ohne Gegenwehr ins Arbeitszimmer schieben. Manchmal war das Leben einfach schön.
Während Lolo in der Küche hantierte, quälte sich Anna mit einem Text für ein Automagazin. Momentan nahm sie dankend jeden Auftrag an, den sie kriegen konnte, und so verfasste sie nun einen Artikel über den neuesten fahrdynamischen Achsenprüfstand eines bekannten Autobauers. Obwohl technisches Verständnis nicht gerade ihre Stärke war, legte sie einen ordentlichen Text hin. Kurz vor dem Mittagessen konnte sie den Artikel sowie die Rechnung an ihren Auftraggeber abschicken. Die nächste Deadline für einen weiteren Text war erst in zwei Tagen und so konnte sie sich getrost den Rest des Tages frei nehmen.
Bratenduft durchströmte die Wohnung und in Annas Magen bereitete sich eine wärmende Behaglichkeit aus. Sie lehnte sich zurück und betrachtete das Foto ihrer Großmutter, das auf dem Schreibtisch stand. „Ach Oma, das würde dir auch schmecken – Rouladen mit Kartoffelpüree. Du fehlst mir so. Wenn ich Lolo nicht hätte, würde ich das hier alles gar nicht aushalten.“ Als sie in die Küche kam, saßen die Mädchen am Tisch und malten, während Lolo in der einen Hand ein Sektglas hielt und mit der anderen die Sauce abschmeckte. „Bist du fertig, Süße, hast du was zustande gebracht?“ Anna nickte und ihre Augen lächelten. Auch die Mädchen hoben die Köpfe und kicherten. Lolo fing als Erste zu lachen an und nach und nach stimmten alle mit ein. Sie lachten immer lauter und lauter und unten an der Straße blieben die Menschen stehen, um nach oben zu dem geöffneten Fenster zu blicken.
Am Abend kam Annas Stiefmutter Irina hereingeschneit und lüpfte gleich die Topfdeckel, um zu überprüfen, ob Anna eine gute Mutter war und die Kinder mit gesunden Speisen versorgte. „Oh, Rouladen“, rief sie entzückt, „meine Lieblingsspeise, da sind ja noch ein paar übrig, ob ich wohl mal probieren dürfte?“ Anna lächelte. Lolo hatte ihr einen doppelten Gefallen getan, denn meistens hatte Irina guten Grund zur Klage. Anna hatte weder die Zeit noch das Geld, den Kindern jeden Tag etwas Gesundes zu kochen und so gab es oft mehrere Miracoli-Tage in der Woche, Pommes Frites und zum Ende des Monats hin sogar Ravioli aus der Dose. Irina, die Annas Vater sprichwörtlich ins Grab gebracht hatte – aber darüber wurde offiziell nicht gesprochen und dies ist auch eine lange Geschichte –, hatte heute also gar nichts zu meckern und freute sich über die seltene Gelegenheit, von Anna fürstlich verköstigt zu werden. Was Anna an Irina besonders liebte, war ihre Spontanität und Lebensfreude. Das war nicht immer so gewesen. Wer Irina sah, würde niemals glauben, dass diese selbstbewusste und lebensfrohe Frau einmal ein Heimchen am Herd gewesen war, wie es im Buche steht. Als Anna ihre Stiefmutter kennenlernte, ging sie ihr mit ihrer Aufopferungspenetranz gewaltig auf die Nerven. All ihre Lieben umsorgte und pflegte sie mit einer solchen Hingabe, dass man in ihrer Nähe kaum Luft zum Atmen bekam. Anna hatte schon immer gewusst, dass Irina nichts anderes war als ein machtbewusstes Weib, das auf subtile Art und Weise alles ihr Mögliche tat, um andere von sich abhängig zu machen, sie zu dirigieren und sich in alles einzumischen. Und das Ganze unter dem Deckmantel der Fürsorge und mütterlichen Aufopferung. Annas Vater hatte sie binnen fünf Jahren so weit, dass er sich kaum noch die Schnürsenkel allein zubinden geschweige denn sich selbst ein Steak braten konnte. Irgendwann war dann Anna der Kragen geplatzt und sie hatte Irina den Spiegel vorgehalten. Diese Enttarnung und eine schreckliche Szene lösten dann einen Mechanismus aus, den kaum einer für möglich gehalten hätte. Binnen vier Wochen mutierte Irina zu einer komplett anderen Person. Zuerst fuhr sie zur Kur, was an sich schon erstaunlich war. Denn sie alleine ohne ihren Karl oder, noch schlimmer, ihr Karl ohne sie, das war einfach undenkbar! Aber ihr neu entdeckter und offensichtlich in ihren tiefsten Tiefen verborgener, grenzenloser Egoismus gewann die Oberhand und nachdem sie sich bei Dr. Levi am Starnberger See einer Fettabsaugung unterzogen hatte, schnappte sie sich einen weitaus jüngeren Mann, besuchte Französisch-Kurse, lernte Segeln und verschwand schließlich für ein paar Monate an die Côte d‘Azur. Ihren Karl zwang sie zum Verkauf des Hauses und zur Herausgabe der einen Hälfte, die sie in eine schicke Segeljacht steckte, auf der sie heute lebte und mit wechselnden Skippern die Welt umsegelte. Alle paar Wochen tauchte sie wie aus dem Nichts auf und verschwand genauso spontan, wie sie gekommen war. Sie war zu einer fröhlichen, unabhängigen, kompromisslosen und lustbetonten Frau geworden. Nur manchmal – in seltenen Augenblicken und nur bei Anna und den Kindern – kam ihr alter Kontrollwahn durch und dann lüpfte sie halt die Kochtöpfe. Sollte sie ruhig, Anna hatte nichts dagegen. Vor allem heute nicht.
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