„Genau das“, sagte Anna.
„Ok, Kinder“, mischte sich Handerson ein. „Lasst uns fahren. Wir sind bestimmt schlauer, wenn die Gerichtsmedizin, beziehungsweise die KTU, uns die persönlichen Sachen rüberschickt. Und mir frieren die Füße ein, wenn ich mir vorstelle, wie lange wir jetzt zum Revier brauchen werden.“
Als sie bei den Autos ankamen, sah Handerson wie sich die hochgewachsene, hagere Gestalt Hans Schreibers auf sie zu bewegte. Nicht der schon wieder, dachte Handerson. Der hatte ihm an diesem Tag wirklich gerade noch gefehlt. Wieso wusste der eigentlich schon wieder, dass hier eine Leiche herumlag?
„Tag Herr Kommissar. Irgendetwas Interessantes?“
„Nein, noch nicht. Ich werde Sie benachrichtigen, wenn es etwas gibt, dass ich Ihnen mitteilen darf“, gab Handerson unwirsch zurück.
„Schade, dann habe ich mir hier ganz umsonst die Füße abgefroren. Aber wenn Sie mal wieder Hilfe benötigen, wissen Sie ja, wen Sie fragen können. So ein Exklusivbericht würde sich in meinem Lebenslauf wieder mal ganz gut machen.“
Handerson hätte kotzen können. Er hasste diese Schmierfinken von der Presse wie die Pest. Dummerweise hatte er Hans Schreiber im vergangenen Jahr bei den Ermittlungen um Hilfe bitten müssen und ihm im Gegenzug dazu eine Exklusivberichterstattung ermöglicht. Seitdem meinte dieser Schreiberling, er wäre mit ihm ganz dicke und könne ihm regelmäßig auf die Nerven gehen. Anna merkte, wie Björn wieder begann, sich aufzuregen und legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter.
„Komm Björn, lass uns fahren. Meine Füße frieren mir auch langsam ab.“
Carlshaven, Büro der Mordkommission, 07. Dezember 2015
Anna kam mit einer Tüte und einer Aktenmappe ins Büro hinein und hielt sie triumphierend in die Höhe.
„Unser Weihnachtsgeschenk aus der KTU“, sagte sie und legte die Tüte mit den persönlichen Gegenständen des Toten und den vorläufigen Bericht der Kriminaltechnik auf Peters Tisch.
Hektor kam schwanzwedelnd auf sie zu, um sie zu begrüßen. Wie üblich hatte er seinen kleinen Ball im Maul und versuchte, sie zu einem Spiel zu animieren. Sie ging darauf ein und der Groenendael freute sich ungemein. Seine Grundausbildung hatte der junge Polizeihund mittlerweile absolviert und die Prüfungen mit Bravour bestanden. Nun befand er sich im Aufbautraining zum Leichenspürhund. Was auch sonst, wenn sein Herrchen bei der Mordkommission arbeitete?
„Und, wie war dein Wochenende?“, fragte Peter.
„Ganz gut, aber unspektakulär. David und ich haben das ganze Wochenende auf der Couch verbracht und Filme geguckt. Viel konnte man ja bei dem Wetter nicht machen. Gott sei Dank hat es endlich aufgehört zu schneien.“
Der Afrikaner David Kame und sie hatten sich im vergangenen Jahr bei einem Fall kennengelernt. Sie hatte ihn gleich sympathisch gefunden und nach Abschluss der Ermittlungen waren die beiden öfters miteinander ausgegangen. Seit einigen Monaten waren sie nun auch offiziell ein Paar.
„Und was hast du so gemacht?“
„Ich war mit Helga und Hektor gestern Schneeschuhwandern. Hektor fand es super. Nur gut, dass er ein Belgier und kein Schweizer ist, sonst hätte ich ihn wahrscheinlich in dem weißen Schneetreiben nicht wieder gefunden.“
„Wo steckt eigentlich Björn?“
„Der kommt heute später. Er hat wohl irgendeinen Arzttermin.“
„Ach so. Sollen wir uns die Sachen von unserem Toten anschauen oder wollen wir auf Björn warten?“
„Wieso warten? Lass uns das gleich machen.“
Sie zogen sich Gummihandschuhe an und packten die Tüte aus. Peter las in dem vorläufigen Bericht der Kriminaltechnik, während Anna sich die Sachen genau ansah.
„Die Flecken auf der Hose und dem Hemd sind Erbrochenes. Ob es sich um Erbrochenes des Toten handelt, ist noch unklar, da die Analyse noch aussteht.“
„Hm, ich sehe keinen Ausweis und auch keine Geldbörse. Steht da irgendetwas davon, ob sie ein Portemonnaie oder Papiere gefunden haben?“
Peter blätterte den Bericht durch.
„Nein.“
„Och nee, nicht schon wieder.“
Der Fall im vergangenen Jahr, bei dem sie David kennen gelernt hatte, hatte auch mit einer Leiche angefangen, deren Identität zunächst ungeklärt war. So ungewöhnlich der Fall auch gewesen war, so wenig hatte Anna Lust auf eine Wiederholung.
„Na ja, vielleicht findet Weidmann ja zur Abwechslung etwas, mit dem er uns weiterhelfen kann. Ist da bei den Sachen noch etwas Interessantes bei, das uns vielleicht einen Hinweis gibt, wer unser Toter sein könnte?“
„Nein, nicht wirklich. Aber die Kleidung ist schon ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Schau mal, die Hose ist total dünn, das Hemd auch. Und eine Jacke hatte er auch nicht.“
„Na ja, aber wenn der irgendwo drinnen gestorben ist und man ihn da nur abgelegt hat, wie du schon am Freitag vermutet hast? Dann ist es nicht verwunderlich, dass er keine Jacke anhatte.“
„Ja, schon, aber hier das Hemd und auch die Hose, das sind Sommersachen. Und bei den Temperaturen friert man doch schon im Haus.“
„Du vielleicht. Frauen frieren doch immer.“
„Ach so, du trägst also im Moment auch noch deine Sommersachen?“
„Nein, also das nun gerade nicht.“
„Eben.“
~
Am späten Nachmittag saß Handerson mit einer dick geschwollenen Backe am Schreibtisch. Er hatte den halben Tag beim Zahnarzt verbracht. Nachdem dieser ihn unmenschlich lange hatte warten lassen, hatte er festgestellt, dass einer der Backenzähne ein dickes Loch hatte und Handerson daraufhin stundenlang im Mund herumgewerkelt. So langsam ließ die Wirkung der Betäubungsspritze nach, aber die Backe war immer noch dick und seine Laune hob sich nicht wirklich. Das Telefon klingelte.
„Handerson.“
„Weidmann hier. Ich kann euch zwar keinen Namen geben, aber sagen, wen ihr fragen könnt.“
„So?“
„Zhaopeng hat Fingerabdrücke genommen und sie durch sämtliche Datenbanken gejagt. Es gab einen Treffer bei EURODAC.“
„Da sieh an.“
EURODAC war eine der Datenbanken, mit denen Handerson und sein Team relativ wenig zu tun hatten. Die europäische Datenbank war im Jahr 2000 ins Leben gerufen worden, um die Anwendung des Dubliner Übereinkommens zu erleichtern und schnell und effizient zu klären, welcher Mitgliedstaat der Europäischen Union für das Asylverfahren zuständig ist. Die Datenbank beinhaltete Fingerabdrücke von Personen über vierzehn Jahren, die entweder einen Asylantrag gestellt hatten oder bei deren Aufgreifen festgestellt wurde, dass sie sich illegaler Weise im Land aufhielten. Bis Mitte dieses Jahres waren es nur die Asylbehörden eines Landes, die Zugriff auf das System hatten. Eine neue EU-Verordnung weitete nun die Zugriffsrechte auch auf die Sicherheitsbehörden aus. Die Entscheidung hatte europaweit für Entrüstung gesorgt, da sie Asylsuchende und Flüchtlinge automatisch kriminalisierte. Datenschützer fürchteten zudem, dass eine Aushöhlung der Persönlichkeitsrechte folgen würde. Vielleicht wurden ja demnächst auch die Fingerabdrücke, die im Pass gespeichert waren, in einer zentralen Datenbank abgelegt und allen möglichen Behörden zugänglich gemacht.
„Der Mann hat hier in Carlshaven am 12. November einen Asylantrag gestellt. Mehr bekomme ich aus diesem blöden System nicht heraus“, erklärte Weidmann.
„Kein Name?“
„Nein, den spuckt die Datenbank nicht aus. Zumindest uns nicht. Ist anonymisiert. Hier ist nur eine Nummer, mit der du zum Bundesamt für Asylfragen gehen kannst. Die müssten dir sagen können, wer der Mann war. Hast du was zu schreiben?“
„Ja, schieß los.“
Handerson notierte sich die Nummer und das Datum, an dem der Antrag gestellt worden war, auf einem Zettel.
„Das ist auf jeden Fall schon einmal eine ganze Menge. Danke dir. Weißt du schon, woran er gestorben ist?“
Читать дальше