»Ich will Ihnen sagen, was ich sah.« Seine Stimme klang plötzlich mechanisch. »Erst kommt Ronnie in einem Boot vom Schiff. Er rudert und rudert, dann kommt das Polizeimotorboot und holt ihn ein. Dann sehe ich, wie sie kämpfen und kämpfen, und ich höre einen Fall ins Wasser, und plötzlich höre ich Mr. Bradleys Stimme: ›Der ist erledigt – niemand darf etwas darüber sagen.‹«
Während er sprach, schaute er sie an, und sie glaubte, in seinem Blick einen gewissen Trotz zu lesen, als ob er schon darauf vorbereitet wäre, daß sie seiner Geschichte keinen Glauben schenken würde.
»Haben Sie das wirklich gesehen?«
Er neigte den Kopf.
Ann wandte sich an Mark.
»Warum wurden denn diese Leute nicht angeklagt? Warum hat man nur Klage gegen ›einen oder mehrere unbekannte Täter‹ erhoben? Ist denn die Polizei in diesem Land unantastbar? Können ihre Beamten straflos jedes Verbrechen begehen – sogar Mord?«
Zum ersten Mal zeigte sich ihre starke, innere Erregung. Ihre Stimme zitterte, als sie sprach.
»Bradley – Sie sagten doch, daß Bradley ihn ermordete? Ich werde den Namen nie vergessen.« Ihr Blick traf wieder den alten Mann. Er stand mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen da und schwankte leicht hin und her. »Hat Mr. Yoseph denn keine Klage gegen die Polizei erhoben?«
Mark lächelte.
»Wozu? Sie müssen verstehen, Miss Perryman, daß die Polizei ihre eigenen Gesetze hat, nicht nur bei uns, sondern auch in allen anderen Ländern. Ich könnte Ihnen Romane darüber erzählen, was in New York passiert ist ...«
»Ich will nicht wissen, was dort geschieht«, unterbrach sie ihn schnell. »Aber sagen Sie mir, ob man diesem alten Mann glauben kann!« Sie sah auf Li Yoseph.
»Durchaus«, sagte Mark nachdrücklich.
»Sie können ihm vollständig vertrauen«, mischte sich Mr. Tiser wieder in die Unterhaltung, nachdem er lange hatte schweigen müssen. »Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, daß er ein absolut ehrenwerter Charakter ist.«
Er begegnete Marks Blick, begann zu stammeln und schwieg dann wieder.
Anne hatte den Kopf gesenkt und einen Finger an die Lippen gelegt; ihre Stirn lag in nachdenklichen Falten. Mark hatte ihr einen Stuhl angeboten, aber sie hatte es nicht beachtet. Auch er schwieg und wartete darauf, daß sie sprechen würde.
»Was hat Ronnie für Sie getan?« fragte sie schließlich. »Sie können mir alles sagen, Mr. McGill. Er hat mir oft von Ihnen erzählt, und ich habe schon vermutet, daß Sie irgendein ... strafbares Geschäft betreiben. Wahrscheinlich sind meine moralischen Anschauungen recht sonderbar, aber es kommt mir jetzt nicht mehr so schrecklich vor wie früher. War mein Bruder sehr wertvoll für Sie? Ist der Verlust, den Sie durch seinen Tod erlitten haben, sehr groß?«
McGill antwortete nicht sofort. Er dachte darüber nach, was sie wohl mit ihrer Frage meinen könnte.
»Ja, er war beinahe unersetzlich für uns«, erwiderte er endlich. »Ronnie war ein Mann, der überall hingehen konnte, ohne den geringsten Verdacht zu erregen. Er fuhr seinen Wagen ausgezeichnet; das kam uns sehr zugute, denn die Polizei hat jetzt eine Fliegende Kolonne eingerichtet. Bradley führt die Abteilung. Vor diesen Leuten müssen wir ganz besonders auf der Hut sein. Ronnie hat gewöhnlich die geschmuggelten Waren herangeholt, manchmal hat er sie auch verteilt ... Ich habe mich in jeder Weise auf ihn verlassen. Aber warum fragen Sie?«
»Ich hätte es gern gewußt. Was ist dieser Bradley eigentlich für ein Mann?«
Bevor Mark antworten konnte, hörte sie ein leises Lachen und wandte sich schnell um.
In Türnähe stand ein Fremder. Ann wußte nicht, wie lange er schon dort war, aber er mußte schon einige Zeit anwesend sein, denn er lehnte lässig am Türpfosten. Er trug keinen Mantel, obgleich der Abend kalt war; sein Filzhut war verwegen über ein Auge gezogen. Der große, schlanke Mann hatte ein gutgeschnittenes Gesicht und freundliche Augen. Sein Blick ruhte interessiert auf Ann.
»Ich würde nicht erstaunt sein, Miss Perryman vor mir zu haben«, sagte er, richtete sich auf und lüftete seinen Hut. »Wollen Sie mich nicht vorstellen, Mark?«
»Mein Name ist McGill«, erwiderte Mark scharf.
»Welch eine Neuigkeit! Als ob Sie nicht schon Ihr ganzes Leben lang diesen Namen geführt hätten!«
Aber dann legte sich ein Schatten über seine Züge, und er sah fast traurig aus, als er langsam auf Ann zuging. Instinktiv wußte sie, wer er war; sie sah ihn mit einem stahlharten, kalten Blick an.
»Es tut mir sehr leid, Miss Perryman, daß Sie all diesen Kummer erleben mußten. Ich wünschte, ich wüßte, wer Ihren Bruder ermordet hat.«
Er biß sich auf die Unterlippe und sah nachdenklich zu Mark hinüber.
»Ich habe mein Bestes getan, um Ronnie vor schlechter Gesellschaft fernzuhalten.«
Er machte eine Pause, als ob er auf Antwort wartete. Als Ann aber nichts erwiderte, sah er sich in dem Raum um.
»Wo ist denn unser musikalischer Geisterseher?« fragte er. »Hallo, Li Yoseph! Sie haben ja Besuch hier.«
Der Alte kam unterwürfig näher. Seine Gesichtszüge verrieten eine sonderbare Gespanntheit. Mark bemerkte, daß Li Yoseph dem Detektiv einen schnellen Blick zuwarf, und beobachtete Bradley; aber in dem Gesicht des Polizeibeamten rührte sich kein Muskel.
»Ich wundere mich nur, daß man Sie hierhergebracht hat.« Bradley sprach zu Ann, aber er schaute den verlegenen, nervösen Tiser an, der nicht wußte, wohin er sehen sollte.
»Sie haben Ihnen doch nicht etwa die dumme Geschichte erzählt, daß die Polizei an dem Tod Ihres Bruders schuldig sei? Aber Sie sind sicher zu intelligent, um derartige Märchen zu glauben. Ihr Bruder wurde an Land getötet und später in den Strom geworfen.«
Ann preßte die Lippen zusammen, und Bradley sah, daß er sie nicht überzeugt hatte.
»Wünschen Sie etwas?« fragte Mark heftig.
Inspektor Bradley zog die Augenbrauen hoch.
»Entschuldigen Sie«, sagte er mit ironischer Höflichkeit. »Ich wußte nicht, daß Sie Li Yosephs Wohnung übernommen haben und hier Hausherr sind. Ich werde heute nacht zwischen zehn und zwei Uhr in Scotland Yard sein.«
Ein Schauer überlief Mark McGill. An wen waren diese Worte gerichtet? Für ihn waren sie nicht bestimmt, ebensowenig für Ann Perryman oder Mr. Tiser. Warum war Bradley gekommen? Mark wußte gut genug, daß dieser Mann nicht in Lady's Stairs erschienen wäre, wenn ihm Ann Perrymans Anwesenheit bekannt gewesen wäre. Sein Besuch galt Li Yoseph! Die Bemerkung, daß er diese Nacht bis zwei Uhr in Scotland Yard sein würde, sollte also zu Lis Orientierung dienen.
Bradley wandte sich um und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und grüßte zum Abschied.
»Ich würde gern einmal mit Ihnen sprechen, Miss Perryman vielleicht darf ich Sie morgen in Ihrem Hotel besuchen?«
Sie antwortete ihm nicht, aber in ihrem Blick lag Haß und Abscheu. Inspektor Bradley sah es zu deutlich, um sich darüber zu täuschen.
Seine Schritte verklangen auf der Treppe, dann wurde die Haustür zugeschlagen.
»Das war Bradley?« fragte Ann leise.
»Ja, das war er«, erwiderte Mark grimmig. »Einer der durchtriebensten und schlauesten Spürhunde von Scotland Yard! Was halten Sie von ihm?«
Sie senkte den Blick zu Boden und überlegte seine Frage.
»Wer wird Ronnies Stelle in Ihrer – Organisation einnehmen?«
Mark zuckte die Schultern.
»Ja, wer könnte seine Stelle einnehmen? Solch einen Mann kann man nicht so leicht wieder finden.«
»Ich könnte es.«
Er sah sie überrascht an.
»Sie?« fragte er ungläubig.
Tausend Möglichkeiten tauchten plötzlich vor Mark auf.
»Wie, Sie wollen zu uns kommen?« Er streckte begeistert die Hand aus. »Mein liebes Kind, Sie sind der Partner, nach dem ich gesucht habe.«
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