Die Bibliothek
1. Auflage 2017
Jürgen Schwarz, Lüneburg, Am Ebensberg 6a
Copyright © Jürgen Schwarz 2017
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Zum Autor:
Jürgen Schwarz Blum lebt in der Lüneburger Heide. Nach dem Studium der Mathematik arbeitet er in der Software-Industrie und als Autor.
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Ich liebte diese Bibliothek. Es gab hier so vieles zu entdecken. Neue Welten warteten sehnsüchtig auf einen Besucher. Und neugierige Besucher kamen, diese zu erkunden. Ideen lebten in der Bibliothek, entstanden hier oder gingen auf die Reise. Auch war hier ein Gedächtnis, das sich dieser Ideen erinnerte. Und, wie Herr Frisch sagte, Ohne Gedächtnis kein Wissen.
Immer wenn ich an einem der scheinbar endlosen Reihen mit den Regalen entlang schlenderte, verfing ich mich in eines der Bücher. Zunächst glitt mein Blick noch über die so unterschiedlichen Buchrücken, die sich in so vielen verschiedenen Größen und Formaten und Farben präsentierten. Sie lehnten aneinander, sie drängten sich oder drängelten sich vor, sie gingen auf Distanz zueinander oder neigten sich zur Seite wegen größerer Zwischenräume. Es gab in die Höhe gewachsene und kleingebliebene Bücher, dicke und gewichtige oder schlanke und dünne. Einige waren dabei ernst und seriös, andere fröhlich und munter. Die einen wollten Aufmerksamkeit erheischen, andere gaben sich eher unauffällig. Einige schienen sich der eigenen Bedeutung bewusst oder hielten sich für wichtig, während andere wiederum sich zurückhielten, aus Schüchternheit oder weil sie die Ruhe liebten.
Gelegentlich zog ich bei meinen Wanderungen eines der Bücher ein Stückchen hervor und erfühlte die Oberfläche. Gebunden in Leinen oder mit glattem Umschlag darüber, eingeschlagen im festen Pappeinband, mit Prägung oder eben, hatten alle einen ganz individuellen Charakter. Dies war schon gleich von Außen zu erspüren.
Sorgfältig schob ich die Bücher, die ich entnommen hatte, wieder zurück, um keine Unordnung zu machen. Auf meinem Weg rückte ich so auch manches Buch wieder liebevoll zurecht, das nachlässig zurückgelegt, nicht ganz in die Buchreihe gerückt, mit dem Kopf nach unten gestellt oder womöglich einfach irgendwohin eingeordnet worden war, wo es nicht hingehörte und sich jetzt nicht mehr wohlfühlte. Aber irgendwann verweilte ich bei einem einzelnen Buch etwas länger, fühlte es in meiner Hand, schlug es vorsichtig auf, begann erst ein wenig zu blättern, unschlüssig, vor und auch wieder zurück, bis ich dann zu lesen angefangen hatte, bevor ich es so richtig bemerkte.
Ich kam gerne an diesen Ort. Früher war das seltener gewesen, vielleicht alle zwei, drei Wochen, bis ich dann erst regelmäßig, einmal die Woche, immer am Freitag Nachmittag, gekommen war. Aber in der letzten Zeit war ich nun fast jeden Tag hier. Dabei kam es mir gar nicht so sehr darauf an, ein bestimmtes Buch zu lesen oder ein besonderes Thema zu recherchieren, als vielmehr einfach bei den Büchern zu sein und ihre Gesellschaft zu suchen. Ich konnte mir das selbst nicht erklären. Sie waren wie eine ausgedehnte Familie für mich, unter denen einige eher Bekannte, andere mehr wie wirkliche Freunde waren.
Die Bibliothek war in einem alten, nur zweistöckigen Gebäude aus rotem Backstein untergebracht. An der Vorderseite standen mehrere Kastanien, die schon recht groß geworden waren, auch wenn sie jünger als das Gebäude waren. Es gab nur das Erdgeschoss und ein Obergeschoss mit den großen Lesesälen, die sich über die ganze Etage erstreckten. Außerdem befanden sich im Keller noch drei Räume, in denen weitere Buchbestände zu entdecken waren. Ein moderner Pavillon war als Anbau an dem Seiteneingang vor einigen Jahren hinzugefügt worden. Dort war jetzt ein Café eingerichtet. Viele Menschen kamen dorthin, um die Atmosphäre der Bücher zu genießen und darin abzutauchen, ohne unbedingt die Bücher selbst zu lesen.
Hinter dem Gebäude befand sich ein Hof. Er wurde von einer Mauer umgeben. Vor Jahren war dort ein kleiner Garten angelegt worden. Doch dann hatte sich niemand mehr so richtig darum gekümmert. Da konnten sich die Pflanzen vollkommen ungestört entfalten. Mittlerweile war der Garten ein wenig verwildert, und viele Büsche waren größer geworden als anfangs gedacht. Um eine kleine Rasenfläche herum, eher eine Wiese mit Wildblumen, die von hohen Rhododendren eingefasst wurde, standen einige Sitzbänke. Hier konnten die Besucher im Sommer sich zum Lesen in die Sonne setzen. In der Mitte des Rasens war eine Statue aufgestellt. Der Stein war vermoost und verwittert, aber es ließ sich noch erkennen, dass hier Flora die Pflanzen umsorgte.
Etwas weiter hinten im Hof gab es noch eine kleine Bank an der rückwärtigen Mauer. Der Sitzplatz war halb eingewachsen von den Büschen, die an den Seiten wucherten, und wurde durch die tief herabhängenden Zweige einer Trauerweide fast schon verdeckt. Dort saß ich gerne. Der Blick von der Bank in Richtung der Rasenfläche ging durch eine schmale Lücke in den Rhododendren. Dadurch ließ sich auch von da die Statue sehen.
Neben der Bank war ein verrostetes Gittertor, das einen Übergang in den großen Stadtpark nebenan bot. Aber das Tor war immer verschlossen und sah auch nicht danach aus, in den letzten Jahrzehnten jemals geöffnet worden zu sein. Sicherlich war auch der Schlüssel dazu mit den Zeiten verloren gegangen. An dieser Stelle war der Stadtpark mehr ein kleines Wäldchen. Dichtes Buschwerk und viele Bäume breiteten sich aus. Wenn es einen Weg durch das Tor in den Park gegeben hatte, war dieser seit langem zugewachsen.
Die ganze Bibliothek mit ihrem Garten war ein friedvoller Ort der Ruhe, in dem man sich verlieren konnte.
Auch heute war ich also hier und schaute mich unter den Büchern um. Es war, als wenn ich etwas Bestimmtes suchte, es aber nicht finden konnte. In einem Katalog konnte ich nicht nachschlagen, da ich einfach nicht wusste, wonach ich suchen sollte. Kannte ich einen Begriff zu diesem bestimmten Unbestimmten, den ich nachschlagen konnte? Kannte ich die Namen von Autoren oder gar die Titel von passenden Werken? Da dies nicht der Fall war, war kein Katalog eine geeignete Welt.
Ich war in das Kellergeschoss hinabgestiegen. Hier war immer etwas Interessantes – und so ganz Unerwartetes – zu finden. Daher erschien mir dieser Bereich der Bibliothek der geeignetste zu sein für meine Stimmung. So ging ich langsam die Regalreihen ab. Immer wieder ließ ich mich rechts oder links von irgendeinem der Bändchen ablenken.
Einige der Bücher mussten regelrecht traurig sein, empfand ich oft. Sie sahen so alt und verstaubt aus, dass wohl seit Jahren, nein, seit Jahrzehnten, niemand mehr sie in die Hand genommen, geschweige denn aufgeschlagen hatte. Innerhalb des ersten Jahrzehnts, nachdem eines dieser Bücher so hoffnungsvoll hier aufgestellt worden war, hatte vielleicht hin und wieder ein ambitionierter Bibliothekar das Buch kurz hinausgenommen, schnell mit einem Staubpinsel den Staub abgewischt und es schon wieder zurückgestellt. Jedesmal war das Buch so aufgeregt gewesen, hatte gedacht: »Endlich kommt jemand und interessiert sich für mich, endlich kann ich mein Wissen, meine Ideen, meine Vorstellungen, meine Sehnsüchte mitteilen, endlich kann ich mit jemanden sprechen« – und jedesmal war es so bitterlich enttäuscht worden.
Bereits als das Buch damals in den Keller getragen worden war, hatte es zunächst sich nicht viel bei diesem Umzug gedacht. Hier unten war es schließlich genauso schön wie in einem der oberen Räume. Dass dies eine Reise in den Abgrund gewesen war und das Buch damit auch äußerlich der Vergessenheit übergeben worden war: das war ihm anfangs gar nicht aufgefallen. Konnten Menschen so grausam sein?
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