Bilder aus der Vergangenheit klopfen an, verhalten, unaufdringlich, doch sich ihrer Wirkung bewusst. Aus einer Mischung von Neugier und Frust öffnet er die Türe einen Spalt weit, einen Moment abgelenkt durch die Klänge einer Operettenmelodie, er liebt diese Musik. Er öffnet die Türe weiter, denn wer A sagt… Verschwommen sieht er im Türrahmen einen jungen Mann stehen, optimistisch, voller Neugier, etwas unsicher, er mag so achtzehn Jahre alt sein. Der schaut ihn an, fragend, mit hellen, offenen Augen voll trotzigem Optimismus. Wortlos dreht er sich um und öffnet die Tür der Erinnerung. Er und er verschmelzen zu einer Person, der Symbiose aus Vergangenheit und Gegenwart.
Die Prüfungsfahrt, der praktische Teil der Fahrprüfung, lief eigentlich ganz gut, er war überzeugt, oder besser, er hoffte, alles richtig gemacht zu haben. Selbstvertrauen lag nicht mit in seiner Wiege, auch zeigte sich sein bisheriger Lebensweg wenig geeignet, diesen Charakterzug zu formen. doch dieses Mal machte er alles richtig, fast alles, er wollte die Prüfungsfahrt nur zu schnell hinter sich bringen. Etwas zu schnell, bemerkte der schräg hinter ihm sitzende, ältere, Prüfer. Er sei ja ganz gut gefahren, nur viel zu schnell. Es überraschte ihn nur kurz, sein bisheriges Leben lehrte ihn, mit derartigen Widrigkeiten klarzukommen. Widrigkeiten, Schwierigkeiten, Probleme, Pleiten, Pech und Pannen. Treue Begleiter, verlässlich und immer zur Stelle, wenn prägnante, entscheidende Ereignisse anstanden.
Wieder einmal hatte er versagt! Nein, so wollte er es doch nicht sehen, und so auch nicht weiter erzählen. Die unabänderliche Tatsache, dass er durchgefallen war, verpackte er gekonnt mit dem Umstand, dass er ja zu schnell fuhr. Das zumindest stellt, bei einer gewissen Altersgruppe, fast schon eine heldenhafte Tat dar und danach sehnte er sich doch, etwas Großes zu tun, etwas Besonderes zu sein. So durch die Stadt rasen, das hat doch etwas Herausragendes an sich, oder nicht? Seinen Gedanken wuchsen Flügel, sie trugen ihn in die höchsten Sphären seiner Sehnsüchte. Zügellos, jeden Bezug zur Realität verlierend, baute er so immer wieder neue Luftschlösser auf die Trümmer implodierter Illusionen. Er, der Gewinner, mutig, selbstsicher, souverän, erfolgreich. Diesmal war der Anlass für solche Spinnereien eben eine versaute Prüfung.
Die Erinnerung beginnt unangenehme Züge anzunehmen, die Endlosschleife alter Melodien aus dem Rundfunkgerät führen ihn schnurstracks in eine Zeit, die ihn, wenn er sie nur gedanklich streift, frösteln lässt. Sein Gefühl warnt ihn, berechtigt, hat er diese Lebensphase doch abgeschlossen. Abgeschlossen? Mühevoll überwunden beschriebe es besser. Wie lange brauchte er, seine zahlreichen Komplexe, das Resultat einer verkorksten Kindheit, zu verdrängen! Zu lange, wenn er sie denn überhaupt schon alle verdrängt hat.
Die Kindheit, auf diese Erfahrung hätte er liebend gern verzichtet. Er spürt, irgendwo, tief in ihm liegen Erinnerungen, zu denen er nur schwer einen Zugang finden wird. Der lächelnde junge Mann, der ihn auf seinen ersten Schritten in die Vergangenheit begleitete, ist verschwunden. Existiert eine Dualität der Person nur in seiner Phantasie, dieses er und ich? Doch sie ist ihm gut vertraut, im Laufe seines Lebens entwickelte er eine Genialität, die es ihm ermöglichte in allerlei Rollen zu schlüpfen, sie gedanklich zu leben, sie für sein diffuses Ego auszusaugen. Oft lebte er dabei mehr im „er“ als im „ich“. Kein Interesse an einer Psychographie! Sie kreiert doch nur ein unnützes, peinliches Psychogramm seiner Person. Eine objektive Bewertung wäre vielleicht nützlich, doch wenn es so etwas überhaupt gibt, ist das etwas für Menschen, die sie ertragen und in dieser Situation befand er sich überhaupt nicht.
Wo ist der junge Mann geblieben? Der Gedanke lähmt ihn, drückt ihn auf seinen, etwas wackeligen Stuhl. Er zündet sich eine Pfeife an, Ablenkung für einige Minuten, er lauscht auf die Stimmen im Radio, das er inzwischen zu leise stellte. Es strengt ihn an, die Worte oder gar den Sinn zu verstehen. Aus der Pfeife steigt dichter Qualm, er fächert ihn mit der Hand beiseite und starrt zum Fenster hinaus. Der Wald sieht dunkel aus, es wird wohl regnen. Teilnahmslos fixiert er die Wolken Formation, erkennt in ihnen keine Gestalten oder Gesichter, wie sonst immer, wenn er das Spiel der Wolken betrachtet. Mehr als triviale Eindrücke kann er nicht aufnehmen, nichts außer einem dumpfen Trübsinn findet Zugang in sein Bewusstsein.
Was für ein Scheiß Leben musste er doch führen! Drohende Erinnerungen, machtvoll und ohne die Möglichkeit, sich derer zu verweigern, ziehen ihn in ihren Bann. Wie weit geht die Reise, funktioniert der unbewusste Schutz seiner Psyche noch? Ist doch egal, wer nichts riskiert, kann nichts gewinnen. Eigentlich verabscheut er so dümmliche Weisheiten, wenn sie von anderen zum Besten gegeben werden, bei sich macht er gern einmal eine Ausnahme. Er ist nicht wie die anderen, er ist etwas Besonderes, das fühlt er. Glücklich war er nicht immer darüber. Die widrige Seite dieses Andersseins stand, zumindest in der Kindheit, immer düster im Vordergrund. Kindheit, die Bilder der Erinnerung nehmen Konturen an, zuerst nur verschwommen und schemenhaft. Zögernd, etwas widerwillig, öffnet er sich, lässt die Bilder in ihrer Deutlichkeit zu und flüchtet sich dann rasch in die Dualität seiner Person. Er, der Akteur und er, sein Betrachter.
Ein kleiner Junge steht verloren, etwas hilflos in einem Zimmer. Er ist nicht allein. Unheimliche Gestalten, Frauen mit ungepflegten, schütteren Haaren, strähnig, fettig, meist ergraut, bis zur Schulter reichend, bewegen sich gespenstisch leise in dem unangenehm riechenden Raum. Einem aus seiner Perspektive sehr hohen Raum. Die Kleidung der Frauen besteht aus langen, bis fast auf den Fußboden reichenden weiß- grauen Gewändern, einfach geschnitten, wie Säcke. Ihre Füße stecken, teilweise nackt, in schwarzen, klobigen Schuhen. Er fühlt sich unbehaglich. Ein natürliches Gefühl für Ästhetik lässt in ihm ein starkes Gefühl von Abscheu und Ekel aufkommen. Vor ein paar Minuten sah er sie noch in respektabler Kleidung, die Nonnen, Schwestern, ehrwürdig, barmherzig oder mit welchen Attributen sie sich immer aufwerten.
Damals, als er noch ein kleiner Junge war, leiteten und betreuten diese Frauen meist die Kindergärten, und in einem solchen muss er sich gerade befinden. Doch was hatte er allein, ohne die anderen Kinder, in diesem Raum zu suchen, was wollten diese Frauen von ihm? Die Erinnerung verblasst. Nur noch Bruchstücke, zusammenhanglos, sind sichtbar. Eine ältere, stämmige, resolute Schwester, sie schien seine Bezugsperson zu sein, eine etwas dickliche, behäbige und zwei jüngere Frauen, hielten sich zeitweise ebenfalls in dem Raum auf. Der muffige Geruch, der merklich von den halbbekleideten Nonnen ausging, raubte ihm beinahe die Luft zum Atmen. Körperausdünstungen jeglicher Form ekeln ihn an, er spürt dabei nahezu körperlichen Schmerz.
Was wollten sie von ihm? Es gab doch zahlreiche andere Kinder; sicher er war ein zarter, hübscher Junge. Warum kann er sich an nichts mehr erinnern, als an diese eine Szene, warum erinnert er sich überhaupt daran? Ist es einfach nur eine Momentaufnahme, ein Bild, ohne weitere Bedeutung, ohne Geschichte? So recht kann er diese Deutung nicht glauben, irgendwas in ihm wehrt sich dagegen. Diese Begebenheit, Jahrzehnte später Thema einer Therapiestunde, veranlasste den Therapeuten das Wort „Missbrauch“ in den Raum zu stellen, „weitläufig definiert“, wie er noch ergänzend anmerkte.
Es macht ihn nachdenklich, er versucht die Eigendynamik seiner Reise zu unterbrechen und zu verweilen, vielleicht gibt es ein paar redseligere Eindrücke, überdrüssig ihres Statistendaseins und gewillt, die Szene zu beleben. Stille, keiner traut sich, keine Souffleuse gibt ein Stichwort. Resignierend lehnt er sich zurück. Was soll diese Reflektion auf sein bisheriges Leben bringen, wenn sich nur die Fragen manifestieren? Er spürt jedoch einen Drang, eine Unruhe, so schnell will er noch nicht aufgeben. Er fühlt es, irgendeine prägende Begebenheit, unguter Natur, verbirgt sich hinter dieser Mauer des Vergessens. Seine Lethargie, zu Beginn seines Nachdenkens noch dominierend, weicht einer leichten Euphorie. Im weiten Spektrum seiner Gedanken und Gefühle tauchen verschüttet geglaubte Begriffe auf, wie „ ich habe ein Ziel, ich will das unbedingt“. Erregende und auch gleichzeitig besorgniserregende Gedanken!
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