Tatsächlich erschien die Sopranistin begleitet vom Bariton-Sänger mit dem Dirigenten, Rudolf Kempe auf dem Podium, vom begeisterten Applaus des Publikums empfangen. Erneut trug sie das schwarze Kleid vom Vorabend. Und - das fiel ihm besonders auf - sie trug weißgoldene Ohrringe mit Brillanten besetzt und eine doppelte Perlenkette, die ihren Ausschnitt dezent verdeckte. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Silke hatte ihn mit den Augen auf dem Rang gesucht, gefunden und ihm zugelächelt. Er nickte ihr aufmunternd zu.
Der Dirigent blickte auf das Orchester, vergewisserte sich, ob alle Musiker bereit waren, und er beginnen konnte. Auf sein Zeichen erhob sich der Chor. Sämtliche Mitglieder schwarz gekleidet. Gespannte Ruhe kehrte im Sal ein. Der Dirigent hob den Taktstock: „ Selig sind, die da Leid tragen “, begann der Chor. An was dachte Silke in diesem Augenblick? Er hätte es gerne gewusst. Er selbst empfand es als vermessen, denn er verabscheute das viele Leid in der Welt, vor allem, wenn er die schrecklichen Nachrichten im Fernsehen verfolgte. Wenn es denn wirklich einen Gott gibt, der in das Geschehen in der Welt eingreift, warum sorgte er nicht dafür, dass kein Leid in der Welt geschieht?
Es folgte der Bariton nach einem düsteren Vorspiel: „ Denn alles Fleisch, es ist wie Gras. Es wird verdorren “. Ob das auch für Herrn Schwarzer gilt, dachte er, oder wird sein Geist irgendwo anwesend sein? Degenhardt fehlte der rechte Glaube. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, musste er zugeben, dass er überhaupt an nichts glaubte, was er nicht sehen und anfassen konnte oder was irgendwie von klugen Menschen wissenschaftlich bewiesen war. Aber auch hier hatte er durchaus Schwierigkeiten, denn Manches entzog sich tatsächlich einer wissenschaftlichen Erklärung.
Die folgende Sequenz: „ Herr lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und ich davon muss und ich ein Ziel habe “ hatte für Degenhardt eine ganz reale Bedeutung, denn er kannte sein persönliches Ziel nicht und wusste doch nur allzu genau, dass er nicht ewig leben würde. Der Gedanke schmerzte ihn und er vermied ihn, wo und wie es auch immer möglich war. Nun war wieder jemand aus seinem Bekanntenkreis gestorben, und er wusste nicht wie und warum. Er würde versuchen, es herauszufinden und seine Arbeit so gut es ihm möglich war, erledigen, sich für die herrschende Ordnung einsetzen und das Verbrechen bekämpfen. Aber er wusste, dass auch er irgendwann davon musste, weil keinem Irdischen das ewige Leben beschieden war. Der Gedanke belastete ihn aber nicht sonderlich. Er lebte gern im Hier und im Jetzt und war im Grunde mit sich zufrieden, wenn er sich zuweilen auch etwas einsam fühlte. Aber das könnte sich vielleicht ja irgendwann ändern.
Dann kam das Versprechen auf das Jenseits: „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth“. Unter diesen himmlischen Wohnungen konnte Degenhardt sich nicht viel vorstellen. Er lebte hier im Diesseits in einer ansprechenden Wohnung und wollte nur seine Ruhe und Frieden. Möglichst nicht nur für sich sondern auch für seine Mitmenschen. Aber dieser Traum würde wohl nie in Erfüllung gehen. Merkwürdig, dachte er, alle Menschen in der Welt sehnen sich seit Menschengedenken nach Frieden und führen doch immer wieder Kriege. Habgier und Herrschsucht waren doch stärker als alle frommen Wünsche.
Und dann kam das Unglück: Die Sopranistin erhob sich und sang mit wunderbarer Inbrunst und Hingabe: „ Ihr habt nun Traurigkeit, aber Ich will euch wiedersehen, und will euch trösten .“ Woran sie jetzt wohl dachte, hätte er gerne gewusst. Ob sie dabei an sich selbst dachte oder an jemand anderes? Er würde sie vielleicht eines Tages danach fragen, wenn sie sich besser kennengelernt hatten, was er sich durchaus wünschte. Aber dann geschah das Unfassbare: Sie begann zu weinen, Tränen flossen ich über das Gesicht, die Schminke lief ihr über die Backen, sie versuchte am Dirigenten-Pult Halt zu finden, brach zusammen und fiel der Länge nach auf den Boden.
Voller Entsetzen starrten die Menschen auf die bewegungslose Frau. Einige Musiker der vordersten Reihe waren aufgesprungen und bemühten sich um sie, versuchten sie wieder aufzurichten, aber es war vergeblich. Ein paar Sanitäter traten aus dem Hintergrund hervor und legten sie sanft auf eine Tragbahre und entfernten sich durch die Seitentür.
Der Dirigent brach das Konzert ab. Er sah keine Möglichkeit, das Konzert fortzusetzen. Er wandte sich an das Publikum und bat um Verständnis für den unerwarteten Abbruch.
Das Publikum war wie gelähmt und ging schweigend zum Ausgang. Der Kommissar ging auf das Podium und brachte etwas Ordnung in das Chaos, denn er war allseits bekannt, und man achtete seine Autorität. Er rief den Notarzt. Banges Warten. Als der Krankenwagen endlich vorgefahren war, begleitete er die Sängerin ins Krankenhaus. Dort angekommen, wurde sie sofort untersucht. Der Arzt diagnostizierte einen Schwächeanfall, vielleicht sogar einen leichten Schlaganfall. In jedem Fall müsse sie sofort mit Sauerstoff behandelt werden. Er deutete sogar die Notwendigkeit einer Operation an, die aber nicht vor den nächsten Tag durchgeführt werden könne. Bis dahin müsse sie auf der Intensivstation bleiben.
Degenhardt konnte hier nichts für sie tun. Sie hatte das Bewusstsein noch nicht wiederlangt. Er verließ das Krankenhaus und fuhr nach Hause. Auf dem Weg dorthin schaute er kurz im Hotel vorbei, um im Empfang Bescheid zu geben, dass Frau Wohlgemuth heute Nacht nicht ins Hotel kommen würde. Sie sollten nicht unnötig die Polizei alarmieren. Er würde sich persönlich um die Regulierung der Rechnung kümmern.
Bei der Gelegenheit sagte ihm die Telefonistin, dass Frau Wohlgemuth eine ganze Reihe von Telefongesprächen mit ein- und derselben Nummer geführt hätte. Sie zeigte ihm den Ausdruck. Er ließ sich eine Kopie geben, damit die Telefonrechnung bezahlt werden könne. In der kommenden Woche würde er die Gesprächsteilnehmer überprüfen lassen, um den Grund für die vielen Anrufe zu erfahren.
Am nächsten Tag fuhr er als erstes ins Krankenhaus. Aber er konnte sie weder sehen noch mit ihr sprechen, denn sie befand sich in der Vorbereitung auf die Operation. Er hinterließ seine Telefonnummer und fuhr ins Büro. Er suchte Zerstreuung in der Arbeit, denn in seiner Wohnung hätte er nicht gewusst, was er tun sollte. Aber auch in der Arbeit fand er keine innere Ruhe.
Es war Samstag, eigentlich sein freier Tag. Was sollte er mit dem regnerischen Tag anfangen? Vor dem späteren Abend würde er Silke nicht besuchen können. Also sichtete er noch einmal seine Aufzeichnungen über den Fall Schwarzer, ob er nicht unter dem Druck der Ereignisse irgendein Detail übersehen hatte. Aber er konnte sich nicht richtig konzentrieren, denn seine Gedanken weilten bei Silke, die jetzt wohl operiert würde oder schon operiert worden war.
Am liebsten wäre er wieder ins Krankenhaus gefahren, aber das machte zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn, das wusste er genau. Er würde sie nicht zu sehen bekommen. Außerdem hatten sie ja seine Telefonnummer von seinem Handy. Sie würden ihn anrufen, sobald sie sie ein erstes Ergebnis vorliegen hatten. Also musste er warten. Das war nicht gerade seine Stärke. Im Gegenteil, es machte ihn nervös und reizbar.
Daher rief er den Arzt von dem Radisson-Blue-Hotel an. Er sagte ihm, dass seine Patientin Frau Wohlgemuth bei ihrem gestrigen Konzert in der Glocke zusammengebrochen sei und im großen Krankenhaus liege und wahrscheinlich in diesem Augenblick operiert würde. Gerne möchte er mit ihm sprechen und seine Diagnose vom Vortag erfahren. Der Arzt gab ihm einen Termin am frühen Nachmittag.
Schon kurz nach zwei Uhr betrat er voller Ungeduld die Arztpraxis und wies sich am Empfang als Polizeikommissar aus, denn die junge Frau kannte ihn nicht. Schon nach kurzer Wartezeit wurde er ins Besprechungszimmer gebeten.
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