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ISBN 978-3- 8442- 6 455 - 5
Die Übersetzung beruht auf der Ausgabe der dramatischen Werke von Luigi Pirandello, die unter dem von ihm gewählten Titel MASCHERE NUDE im Verlag Mondadori, Mailand, erschienen ist und die von ihm autorisierten Texte enthält.
Seit 1986 erscheint bei Mondadori im Rahmen einer neuen kritischen Gesamtausgabe der Werke Pirandellos auch eine Neuausgabe der MASCHERE NUDE mit einem umfangreichen philologischen Apparat. Erstmals wurden hier auch Textvarianten veröffentlicht, d.h. frühere Versionen, die Pirandello nicht in die endgültige Ausgabe aufgenommen hat.
In der hier vorliegenden deutschen Übersetzung verweist jeweils eine Endnote im Text auf eine solche im Anhang erscheinende "Variante", d.h. auf den in der ersten Ausgabe von SEI PERSONAGGI IN CERCA D'AUTORE 1921 (Verlag Bemporad, Florenz) erschienenen Text. Innerhalb der Variante zu Endnote 14 gibt es eine kleine Variante aus der Ausgabe von 1923 (ebenfalls bei Bemporad). Das "Vorwort" ist zum ersten Mal in der vierten Ausgabe 1925 (Bemporad) und dann in allen Mondadori-Ausgaben erschienen.
Seit vielen Jahren (und doch ist mir, als wäre es seit gestern) steht eine höchst aufgeweckte, junge und dennoch nicht unerfahrene Magd im Dienste meiner Kunst. Sie heißt Phantasie.
Sie ist ein wenig boshaft und spöttisch; wenngleich sie mit Vorliebe schwarz trägt, wird niemand leugnen wollen, dass sie oft recht bizarr einhergeht, und niemand glauben, sie täte immer alles im Ernst und stets auf ein und dieselbe Weise. Sie steckt eine Hand in die Tasche 1und holt eine Narrenkappe heraus, rot wie ein Hahnenkamm, stülpt sie sich über den Kopf und läuft davon. Heute hierher, morgen dorthin. Und es macht ihr Spaß, mir Leute ins Haus zu schleppen, damit ich aus ihnen Novellen und Romane und Komödien mache, die unzufriedensten Leute von der Welt, Männer, Frauen, Kinder, verwickelt in seltsame Verhängnisse, aus denen sie keinen Ausweg mehr finden; ihre Pläne sind gescheitert, ihre Hoffnungen betrogen. Und mit denen umzugehen ist oft wirklich sehr mühsam.
Nun wohl, diese meine kleine Dienerin Phantasie hatte vor einigen Jahren den bösen Einfall oder die fatale Laune, mir eine ganze Familie ins Haus zu schleppen, ich wüsste nicht zu sagen, wo und wie sie die aufgefischt hat, aber nach ihrer Meinung hätte ich aus ihr den Stoff für einen herrlichen Roman herausholen können.
Vor mir stand ein Mann um die Fünfzig, in schwarzer Jacke und hellen Hosen, mit finsterer Miene und vor Beschämung störrischem Blick; eine arme Frau im Trauerkleid einer Witwe, an der einen Hand ein kleines Mädchen von vier und an der anderen einen Jungen von wenig mehr als zehn Jahren; ein dreistes und aufdringliches junges Mädchen, ebenfalls schwarz, aber mit zweifelhafter und aufreizender Eleganz gekleidet, geradezu bebend vor kalter, verletzender Empörung über diesen gedrückten Alten und über einen jungen Mann von ungefähr zwanzig Jahren, der sich verschlossen abseits hielt, als ob er sie alle verachtete. Kurz und gut, es waren diese sechs Personen, die man jetzt zu Beginn des Stückes auf der Bühne erscheinen sieht. Sie fingen an, mir ihre traurigen Schicksale zu erzählen, bald der eine, bald der andere, aber oft drängte auch einer den anderen beiseite. Jeder schrie mir seine eigenen Argumente entgegen, schleuderte mir seine wirren Leidenschaften ins Gesicht, ungefähr so, wie sie es nun in dem Stück mit dem unglückseligen Direktor machen.
Welcher Autor kann jemals sagen, wie und warum eine Gestalt in seiner Phantasie entstanden ist? Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens ist dasselbe wie das der natürlichen Geburt. Eine Frau, die liebt, kann wünschen, Mutter zu werden; aber der Wunsch allein, so glühend er auch sei, kann nicht genügen. Eines schönen Tages fühlt sie, dass sie Mutter wird, ohne genau zu wissen, seit wann das so ist. Genauso nimmt auch ein Künstler, indem er lebt, viele Keime des Lebens in sich auf und kann niemals sagen, wie und warum in einem bestimmten Augenblick sich einer dieser Keime in seiner Phantasie festsetzt, um ebenfalls ein lebendiges Geschöpf zu werden, auf einer höheren Ebene des Lebens als der des flüchtigen Alltagsdaseins.
Ich kann nur sagen, dass diese sechs Personen, die man jetzt auf der Bühne sieht, plötzlich, ohne dass ich je bewusst nach ihnen gesucht hätte, vor mir standen, so lebendig, dass ich sie berühren, dass ich sogar ihren Atem hören konnte. Und da warteten sie nun, jeder einzelne mit seinem geheimen Kummer und alle miteinander verbunden durch den Ursprung und durch die Verknüpfung ihrer jeweiligen Schicksale, dass ich sie in die Welt der Kunst eintreten ließe, indem ich aus ihren Gestalten, ihren Leiden und Schicksalen einen Roman, ein Drama oder wenigstens eine Novelle machte.
Lebendig geboren, wollten sie leben.
Nun muss man wissen, dass ich mich niemals damit begnügt habe, eine männliche oder weibliche Figur, so besonders und charakteristisch sie auch sein mochte, darzustellen aus bloßer Lust, sie darzustellen; ein bestimmtes heiteres oder trauriges Ereignis zu erzählen aus bloßer Lust, es zu erzählen; eine Landschaft zu beschreiben aus bloßer Lust, sie zu beschreiben.
Es gibt freilich gewisse Schriftsteller (und gar nicht wenige), die haben diese Lust, und ist sie befriedigt, suchen sie nichts anderes. Das sind Schriftsteller mit einem eher historischen Naturell.
Aber es gibt auch andere, die über diese Lust hinaus ein tieferes geistiges Bedürfnis empfinden, die Gestalten, Ereignisse, Landschaften nicht gelten lassen, wenn sie nicht durchdrungen sind von einem besonderen Sinn des Lebens und nicht durch ihn einen allgemeingültigen Wert gewinnen. Das sind Schriftsteller mit einem eher philosophischen Naturell.
Ich habe das Unglück, zu diesen letzteren zu gehören.
Ich hasse die symbolische Kunst, bei der die Darstellung jede spontane Bewegung verliert und mechanisch, allegorisch wird. Das ist ein vergebliches und falsch verstandenes Bemühen, weil die bloße Tatsache, einer Darstellung allegorische Bedeutung zu geben, klar erkennbar werden lässt, dass man sie an sich schon als Fabel betrachtet, die doch für sich selbst keinerlei Wahrheit hat, weder eine dichterische noch eine tatsächliche, sondern nur als Beweis für irgendeine moralische Wahrheit geschaffen worden ist. Jenes geistige Bedürfnis, von dem ich spreche, lässt sich nur manchmal, und zwar mit der Absicht höherer Ironie (wie zum Beispiel bei Ariost), durch einen solchen allegorischen Symbolismus befriedigen. Dieser geht von einer Konzeption aus, vielmehr er ist eine Konzeption, die zum Bild wird oder zu werden versucht. Jenes Bedürfnis hingegen sucht in dem Bild, das lebendig und frei in seinem ganzen Ausdruck bleiben muss, einen Sinn, der ihm Wert gibt.
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