Copyright: © 2020 Mathilde Schrumpf
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Titelbild unter Verwendung eines Fotos von Mathilde Schrumpf
Ich wünschte, du wärst etwas Eckiges (Karussell)
Beruhigt
Perücken
Emotionale Verwerfungen
Sagen wir: interniert
Am Morgen danach
Laserbrief
Keine weißen Kerzen
Wenn wir uns wiedersehen
Danksagung
Ach könnt´ ich doch
Kaputt
Talente
Gestern habe ich meinen Chef erschossen
Ich kann immer
Jane Bond auf dem Arbeitsamt
Durchbruch, wissenschaftlich
Die Vierzig
Redeschwall
Scheidungskind
Susanne S.
Schwarzer Peter, miese Tricks
Valentina Tereschkowa
20 Jahre im Beruf
Hilfe, ich liebe Julie Andrews
Mein berlinerndes Herz
Ich wünschte, du wärst etwas Eckiges (Karussell)
Alles einsteigen bitte, zurückbleiben Rien ne va plus nichts geht mehr wer kopfüber aufsprang, muss so mit und sehen, wie er zurechtkommt halten Sie bitte die Fahrausweise bereit Ach mir wird übel in diesen Dingern ich weiß nicht warum ich mich wieder und wieder solchen Mutproben aussetze ein Wahnsinniger, ein Quälgeist ist darauf verfallen, dass es Kindern Spaß machen soll Karussell zu fahren Merry go round und merry Mary wird ganz blass und klammert sich an die Messingstange vom Vordersitz die ersten Runden lang versucht sie die Tiefe des Grauens zu ermessen, indem sie sich fallenlässt, fallenlässt in die Tiefe der Grauens. Letztendlich ist auch körperliches Unwohlsein, seelisches Entsetzen und die rasende Angst eines Kinderherzens ermessbar, erfahrbar wie ein physisch vorhandener Raum, so stellt sie sich das vor, um in der Unendlichkeit des Entsetzens nicht verloren zu sein, nicht allein zu sein lieber sich fallen lassen, bis der Raum zu Ende ist, ausgeschritten, durchmessen von ihrem fallenden Körper.
Mit fünf praktiziert sie es, und 30 Jahre später erst wird sie Worte haben für das Empfinden, ausgesetzt zu sein einer höheren Macht, die sie umherschleudert und zerschmettern kann und das alles nicht aus bösem Willen tut, sondern als Sonntagsspaß für die ganze Familie. Musik ist an und alles singt und lacht und jauchzt vor Entsetzen. Wenn sie von den Ohren her wieder Meldungen bekommt von der Außenwelt, weiß sie, dass der Abgrund des Entsetzens durchschritten ist, einmal die Dimension der Tiefe ausgeschritten, was jetzt noch kommt, ist nur lang und breit, Länge und Breite.
Es gibt noch: Ihre Hände, weiß und verkrampft an der Messingstange des Vordersitzes und das graue Empören eines Magens, der brüllt und sich zugleich den Mund zuhält, kein Mucks darf aus ihm dringen, und dann beginnt sie von Überanstrengung zu frieren, die Zähne klappern und der ganze Körper schlottert, und sie gibt es auf, das Zittern der Muskeln, der Gliedmaßen unterdrücken zu wollen, das schafft sie nicht. Der Rest ist eine reglose Starre, ein Aushalten, indem die Seele den Körper verlässt, weil sie das Leid nicht ertragen könnte, ohne Schaden zu nehmen. Die Seele, leicht wie ein Vogel, steigt auf und überlässt den Körper seiner Mühsal, und später wird sie nicht mehr wissen, wie das war und was das eigentlich war bis zu dem erlösenden Gedanken, der so erlösend nicht ist, denn es ist zu spät für eine Erlösung.
„Es wird langsamer”, meldet eine Instanz an ihren Körper. Welcher Sinn, welche Zellen, welches Organ? Keine Ahnung, „Es wird langsamer”, ja ist denn das zu glauben, Bremskräfte werden spürbar. Empörend kurze Zeit vergeht und alles bleibt stehen wie zum Hohn, denn der Schwindel geht weiter, ihre Augen hüpfen wie irre immer in eine Richtung weg und sie zwingt sie, stehen zu bleiben und auf die grässlichen Menschen zu schauen, die mit fiesen Sonntagsgesichtern und brutalen Visagen, die nichts als groteske Karikaturen eines Elternlächelns sind, auf sie zukommen, und sie spürt ihre Beine nicht und setzt doch alles daran, nicht zu fallen. Nicht einknicken, keinen falschen Schritt, langsam die Holztreppen hinab, die Augen suchen: einen Papierkorb, Kübel, Tonne, in den der Magen brüllen könnte.
Eine fiese erwachsene Bespaßungsmaschine hat ihren Kinderkörper nicht verstanden, hat ihre Kinderseele püriert, und das Missverstehen geht so tief, dass es keinen Zweck hätte, den Eltern ihr Leid zu zeigen und auf ein Erbarmen zu hoffen. Bitte, bitte, ich will nicht Karussell fahren, ich mag´s einfach nicht, weiß ich doch nicht, warum, ist mir egal, wenn´s hundert Millionen anderer Kinder mögen, und Brummkreisel mag ich auch nicht und Ventilatoren und Drehtüren, Walzer, Uhren und das Stadionrund und Waschmaschinen und die ganze Erdkugel und Eiskunstlaufpirouetten und ganz ganz ganz ganz viele andere Dinge mag ich auch nicht, und du wirst lachen, nicht mal Zucker nehme ich in den Tee, weil jemand auf die Idee kommen könnte, ich müsse ihn dann auch umrühren.
Weißt du, ich mag eigentlich lieber das Eckige. Häufig ruht es. Es strahlt Stille und Unbeweglichkeit aus, schöne solide Unbeweglichkeit, darauf ist doch mal Verlass. Ich wünschte, du wärst etwas Eckiges.
Sie kocht morgens um sieben Hafersuppe mit Soja-Milch. Dazu Tee für mich und Kaffee für sich selbst. Sie hat zwei dunkelblaue Fahrradtaschen, die Verlässlichkeit und langen Funktionszeitraum signalisieren. Nicht einmal, wenn sie das Fahrrad mitnimmt, fährt sie schwarz. Sie hat einen Fahrradhelm, ich weiß das, auch wenn ich ihn in den letzten Tagen selten in Gebrauch gesehen habe. Sie lädt zum Advents-Plätzchen-Backen ein und hat dafür zwei Rezeptheftchen, deren Rezepte alle von ihr erprobt und für gut befunden oder ausgemustert wurden. Sie macht mir ein Käsebrot, mit links macht sie das, und ich bin jedes Mal auf Neue kurz verunsichert.
Sie setzt sich gekämmt an den Frühstückstisch, verlangt aber nicht, dass ich mich auch kämmen soll. Sie stellt den Wecker eine halbe Stunde früher als unbedingt nötig. Sie sagt: „Ich komme nicht pünktlich, aber ich komme.“ Sie hat Eier im Kühlschrank, wie ich mit einem unabsichtlichen Blick im Vorübergehen sehe. Sie hat ein Küchenbuffet mit geputzten Scheiben, und die linke obere Tür quietscht leise, wenn man sie öffnet. Sie sagt, bevor sie die Sterne aufhängt, will sie noch die Fenster putzen. Weder das eine, noch das andere wird geschehen, fürchte ich. Als ich am Abend wiederkomme, ist beides vollbracht.
Sie schaut in mein staunendes Gesicht und freut sich leise. Ich rechne nach, dass sie heute in Spandau, Bernau und Wilhelmsruh war, und kann nicht begreifen. Sie schimpft mit sich, als wäre sie faul und kriegte nichts auf die Reihe. Ich brauche ein paar Tage, um zu kapieren: Hier ist die Selbstwahrnehmung offenbar verschoben. Sie ruft mich an wie versprochen, aber nicht mehr nach zehn. Ich rufe sie an, sie ist da und geht ran. Ja, ich idealisiere. Dafür kann ich nichts, denn ich kam völlig derangiert und demoralisiert aus einer Beziehungswüste. Aus mehr oder weniger gut verdeckten Mängeln. Deine fußkalte Küche, deine Katzen, dein Rauchen, deine Vergesslichkeit – das ist vorbei.
Sie tut ihre vermeintliche Unperfektheit kund, und ich war allzu schnell bereit, ihren Bekundungen zu glauben, wofür kein Grund bestand. Jetzt, da ich sehe, es geht anders, weiß ich erst, wie unrecht ich mir getan habe, als ich glaubte, dich lieben zu müssen. Ja, ich vergleiche. Dich mit ihr. Wer nicht gut dabei abschneidet, ist klar. Ich frage sie, ob sie das Buch „Der Fänger im Roggen“ gelesen hat. Sie hat. Holden Caulfield hegt den Berufswunsch „Fänger im Roggen“, weil er Kinder vor einem Abgrund retten will. Wenn in einem ihrer Musikkurse einem Kind schlecht wird, sieht sie es schon am Beginn der Stunde. Und als Anna blass und blässer wird, führt sie sie an der Hand hinter sich her, geht mit ihr ins Bad und spricht dem Mädchen beruhigend zu, als es weint und schließlich sein Frühstück verabschiedet. Allein die Information, sie sei Kinderdiakonin, lässt mein inneres Kind das Beste hoffen. Für mich.
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