Es gab kein bekanntes Wetterphänomen, das diesem hier glich, da waren sich die beiden Piloten einig. Doch das nächste Wunder ließ nicht lange auf sich warten.
Schlagartig hörten die furchtbaren Turbulenzen auf. Gebannt starrten sie nach draußen. Vor ihnen schmolzen alle Blitze zu einem leuchtenden Energiebalken zusammen. Er war riesig, etwa an die zweihundert Meter lang, dabei aber unglaublich schmal. Plötzlich faltete er sich wie das Lid eines Auges auseinander. Ein nahezu kreisrunder Ring aus blitzender Energie entstand. Die Fläche dazwischen schien wie aus Spiegelglas gemacht, hauchdünn und zerbrechlich. Grant und Hotchkiss konnten sogar ein schwaches Spiegelbild ihres eigenen Flugzeugs sehen, das direkt auf sie zukam.
Schließlich durchstieß die Supersonic jene glatte, von leuchtender Energie gesäumte Fläche. Die Oberfläche schien nicht nachzugeben, dennoch gab es keinen spürbaren Widerstand. Lediglich ein energetisches Kribbeln ging durch ihre Körper, als sie das Phänomen durchflogen. Bevor sie sich weitere Gedanken darüber machen konnten, waren sie komplett hindurch. Ein neues Rütteln und Schütteln ging durch das Flugzeug, machte deutlich, dass die Luftloch-Passage noch nicht vorüber war, jedoch weitaus schwächer als zuvor. Überhaupt schien das Phänomen auf der anderen Seite des Auges viel weniger schlimm zu sein. Im Nu waren sie heraus aus den Turbulenzen, hinter ihnen verflüchtigten sich das Auge und die sonderbaren Blitze, als hätte es sie nie gegeben.
Die Supersonic flog ruhig durch den nächtlichen Himmel, schwach hinter ihnen ein letzter Abglanz des Sonnenuntergangs.
»Die elektronischen Geräte sind hinüber«, keuchte Grant.
Der Höhenmesser funktionierte einwandfrei, ebenso die Anzeigen für die Geschwindigkeit und auch sämtliche LED-Bildschirme. Das Bodenradar war jedoch im Eimer, zeigte anstelle der Weiten des Atlantiks jetzt plötzlich Berge und Wälder. Das Navigationsradar war ebenfalls vollkommen unbrauchbar. Die Zahlen rannten unkontrolliert rauf und runter. Lediglich die Himmelsrichtungen Nord, Süd, West und Ost ließen sich bestimmen. Eine genaue Position war für den Bordcomputer nicht auszumachen, der Funk war ausgefallen. Alles war still auf der anderen Leitung, genauso still waren all die Satelliten, mit denen die Supersonic ununterbrochen in Verbindung stand. Die entsprechenden Anzeigen zeigten nur statisches Rauschen. Hotchkiss stieß einen derben Fluch aus und verwünschte ihre vorherige Entscheidung. Bis Sonnenaufgang reichte der Treibstoff noch, danach würden sie schon sehen, wo sie sich überhaupt befanden. Ohne die Geo-Satelliten war eine Orientierung jedenfalls unmöglich.
Johan kam wieder zu sich, übersät mit blauen Flecken. Sein rechter Arm schmerzte wie die Hölle, vermutlich gebrochen. Blut lief ihm übers Gesicht. Die Nase war wohl auch hin. Mit einem Fluch rappelte er sich auf – nur, um die Schmerzen in beiden Beinen zu registrieren. Der Angriff dieser verfluchten Punks und das Herumschleudern hatten ihm ganz schön zugesetzt. Aber noch war er fit genug, sich wieder um seine Aufgaben zu kümmern. Er sah sich um, fand seinen toten Kameraden mit verdrehtem Hals am Boden liegen, nicht weit von den drei toten Punks entfernt. Auch seine Waffe lag dort. Er humpelte hinüber, hob sie auf und machte sich auf den Weg ins Cockpit. Zahlreiche Passagiere waren verletzt und bewusstlos, vielleicht auch tot. Das konnte er nicht genau feststellen. Er stieß die Tür zum Crewbereich auf und gleich darauf die zum Cockpit. Mit der unverletzten Hand drückte er seine Waffe Hotchkiss ins Gesicht.
»Was zum Teufel haben Sie getan? Ich bringe Sie um!«, brüllte er.
Hotchkiss ignorierte ihn, schloss die Augen und machte sich bereit, seine Strafe zu empfangen. Johan war jedoch nicht der Einzige, der wieder zu sich kam. Auch Fizzler erwachte. Sofort stand er auf und ging zu dem anderen bewusstlosen Terroristen. Es war der Anführer. Er bückte sich, nahm das Gewehr, das unter dem linken Arm des Typen lag, und entsicherte es. Anstatt dem Schwein einen Schuss durch den Kopf zu verpassen, drehte sich Fizzler um. Schnurstracks marschierte er auf den Crewbereich zu und verschwand in der Bordküche.
Jessica sah fassungslos, wie sehr der junge Punk am ganzen Körper zitterte. War es Furcht? Doch seine Schritte zeugten von einer grimmigen, mörderischen Entschlossenheit. Sie erahnte schon, was Fizzler vorhatte, und wollte ihn davon abhalten. Für ihren Geschmack war genug Blut geflossen. Obwohl sie ihn abstoßend fand, würde ihn ein weiterer Angriff auf die Terroristen gewiss nur selbst das Leben kosten. Sie flehte ihn an, es bleiben zu lassen, doch Fizzler hörte gar nicht zu.
»Ich werd’s tun, ich tu’s ja schon«, jammerte er und sah zu einem Unsichtbaren auf, der neben ihm zu stehen schien. Schritt für Schritt näherte er sich dem Cockpit. Die Tür stand weit offen, ausgefüllt von der breitschultrigen Gestalt Johans. Fizzler hob die Waffe, unschlüssig was er tun sollte. Wimmend wandte er sich an den Unsichtbaren. »Mein Meister, mein Herr, bitte … Ja, ja, Ich mach ja schon!«
Fizzler drückte den Abzug durch.
»Es tut mir leid«, schrie er, fuhr mit dem Schnellfeuergewehr von links nach rechts und rauf und runter, so lange, bis das Magazin leer war.
Johan wurde in den Rücken getroffen, in den Hals und in den Hinterkopf. Er stürzte augenblicklich nach vorne, begrub die Schubregler und die Hebel für die Landeklappen unter sich. Fizzlers Kugeln richteten jedoch noch weitaus größeres Unheil an. Sie durchsiebten die Rückenlehnen von Hotchkiss und Grant, durchtrennten Kabel und Leitungen, schlugen in die Armarturen ein, ließen Bildschirme platzen und Anzeigen erlöschen.
Grant öffnete seinen Sicherheitsgurt und sackte sofort zusammen. Auf seiner Brust wuchsen vier dunkelrote Flecken, die sich immer weiter ausdehnten. Seine rechte Hand streifte den Sidestick, drückte ihn nach vorn. Die Nase der Supersonic hob sich, nur um gleich darauf zu sinken; steil zu sinken.
Reflexartig wollte Hotchkiss zur Seite greifen, um seinen toten Kopiloten vom Sessel zu ziehen und die Kontrolle über das Flugzeug zurückzugewinnen. Doch nichts geschah. Seine Hände blieben, wo sie waren, rührten sich keinen Millimeter. Hotchkiss brüllte vor Verzweiflung, als er begriff, was geschehen war. Eine der Kugeln hatte sein Rückenmark getroffen. Alles unterhalb des Halses war gelähmt.
Die Supersonic sank immer weiter, rauschte unaufhaltsam dem Erdboden entgegen. Sie stürzten ab, und Hotchkiss konnte nichts dagegen tun.
Der Moment der Ruhe währte nicht lange. Die Passagiere kamen wieder zu Bewusstsein, ebenso die Terroristen. Tom beobachtete sie alle, Veyron tat das Gleiche. Am Boden blieb lediglich der Kerl, den Veyron mit der Videokamera getroffen hatte. Die dürre Hexe kümmerte sich jetzt um ihn, setzte ihn in einen Sitz und versuchte, ihn aufzuwecken. Plötzlich erklang Maschinengewehrfeuer aus dem vorderen Flugzeugbereich, nur einen Moment später kippte die Supersonic scharf nach unten. Diesmal hielt sie die Richtung. Einige Passagiere begannen von Neuem zu schreien. Toms Herz schlug wie verrückt, er atmete scharf aus. Sie stürzten ab!
Veyron schnallte sich los und stand auf. Tom traute seinen Augen nicht. »Was haben Sie vor?«, schrie er voller Angst und Verzweiflung.
Als Antwort griff Veyron zur Seite, öffnete Toms Sicherheitsgurt und zog den Jungen nach draußen auf den Gang. »Retten, was zu retten ist«, antwortete er und kämpfte sich vorwärts.
Die Hexe sah die beiden kommen, hob ihre Waffe und stellte sich ihnen in den Weg. Veyron ließ sich zu Boden fallen, schlitterte ihr entgegen und grätschte in ihre Beine. Tom sah den spindeldürren Körper der Hexe vom Boden abheben. Sie schrie auf, doch es half ihr nichts. Mit voller Wucht prallte sie in die Glastür. Sie splitterte unter dem Gewicht der Terroristin, die vor Schmerz keuchte und reglos zu Boden rutschte. Tom wusste nicht, ob sie tot oder nur bewusstlos war, aber es war ihm auch egal. Veyron befand sich schon in der First Class, rappelte sich wieder auf und hangelte sich an den Sitzen weiter nach vorne. Er kam am Anführer der Terroristen vorbei, der gerade den Kopf hob. Ein Fußtritt Veyrons beförderte ihn jedoch sofort wieder ins Land der Träume.
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