„Ich habe aber ein Haus gesehen, das gut bestellt war“, ließ sich Urial vernehmen.
„Oh, Ihr meint sicher das Anwesen von Blanschier. Ja, ihm geht es gut, obwohl er weder Schafe züchtet, noch Besen bindet. Oder vielleicht gerade deswegen! Ich weiß jedenfalls nicht, womit er sein Brot verdient. Ich sehe manchmal in der Nacht dunkle Gestalten in sein Haus schleichen. Dann macht er sich selbst auf den Weg und wird wochenlang nicht mehr gesehen."
„Weiß jemand, in welchen Geschäften er unterwegs ist?"
„Ich habe keine Ahnung."
„Wie kommt es“, ließ sich der schweigsame Zwerg vernehmen, „dass Ihr heute noch lebt, die Ihr vor langer Zeit die blühende Stadt gesehen habt?"
„Ihr müsst nicht glauben, dass dieses lange Leben eine Freude für mich ist, Herr Zwerg. Aber es wäre eine ausführliche Geschichte, und ich will Eure Begleiter damit nicht langweilen. Aramar kennt sie."
„Die Gefahr dieser Langweile würde ich gerne eingehen“, fiel Fallsta ein.
„Oh ja, erzählt“, bettelte nun auch Galowyn.
„Ich weiß doch gar nicht, wo ich anfangen soll“, meinte Axylia verlegen.
„Erzähle von deiner Kindheit, und wie wir uns kennen gelernt haben." Aramar versuchte ihr zu helfen.
„Es ist lange her, doch erinnere ich mich an meine Kindheit besser, als an so manches Jahrhundert danach. Ich war ein kleines Mädchen, hatte schwarze Haare und trug ein buntes Kleid. Obwohl der Raum in der Stadt eng und teuer war, war unser Haus von einem Garten umgeben, und dort blühten so viele Blumen, dass ich sie gar nicht aufzählen kann. Auch ein kleiner Brunnen plätscherte Tag und Nacht. Wir hatten einen eigenen Gärtner. Selbst ich als Kind bewohnte eine eigene kleine Kammer. Mein Vater galt als reich. Unser Haus war groß. Über seine drei Stockwerke ragte noch ein hoher Giebel. Dort wurden die Waren gelagert, mit denen mein Vater Handel trieb. Sie wurden außen mit Seilen hochgezogen. Zwei Männer führten genau Buch über das, was hereinkam, und das, was hinausging. Meine Mutter war eine freundliche, gutherzige Frau. Mit sanfter Hand führte sie ganz allein den großen Hausstand, denn mein Vater hatte dafür wenig Zeit, und jeder war zufrieden.
In der Stadt war pulsierendes Leben in solcher Fülle, dass man es sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. In vierzehn Gasthöfen drängten sich Fremde. Überall wurden Geschäfte gemacht. In der Mitte der Stadt war ein großer freier Platz. In seinem Zentrum stand eine Linde. Er war die Quelle allen Wohlstandes. Man nannte ihn nur 'Der Markt'. Zweimal in der Woche durften dort Stände aufgebaut und Buden aufgeschlagen werden. Dann wurde gehandelt und gefeilscht. Aber auch in der übrigen Woche traf man sich in den Gaststuben und Kontors und kaufte und verkaufte.
Über die Stadt wachten die Hüter. Sie waren die einzigen, die Waffen tragen durften, und sie waren überall. Sie kontrollierten die Gewichte der Händler, patrouillierten nachts auf den Straßen und hielten Mauern und Tore besetzt. Wenn es über einen Vertrag Streitigkeiten gab, so wandte man sich an sie, und niemand wagte ihnen zu widersprechen. Sie waren hart, aber gerecht. Vor ihrem Gericht erscheinen zu müssen, galt als schlimmes Schicksal. Schon den Kindern wurde gedroht, man werde sie vor die Hüter bringen, wenn sie nicht artig wären. Der Herr aller Hüter hieß Argonat. Er war der beste Freund meines Vaters. Ich war ihm schon als Kind versprochen worden.
Natürlich wusste ich, dass ich eines Tages Argonat heiraten würde, und ich war stolz darauf. Jede Frau der Stadt hätte sich ihm mit Freuden und ohne zu zögern hingegeben. Er dürfte in der Tat auch so manches Mal schwach geworden sein. Ich erinnere mich heute an einige Einzelheiten, die ich als Kind nicht deuten konnte. Damals aber war ich der festen Meinung, er würde nur auf mich warten. Argonat war zu mir zuvorkommend und behandelte das vierzehnjährige Mädchen wie eine Dame. Jeder in der Stadt wusste um meine Zukunft und ging mit ausgesuchter Höflichkeit mit mir um. Manche der Bürger waren beinahe devot zu mir. Dies war für ein junges Ding natürlich etwas zu viel der Ehre. Ich wurde schnippisch und hochnäsig. Wenn mein Vater dies bemerkte, wies es mich scharf zurecht. Aber die Mutter beruhigte ihn dann und meinte, dies würde sich schon wiedergeben, es sei natürlich. Vor dem Einschlafen dachte ich stets an den Herrn der Hüter. Geträumt aber habe ich von Mirx, dem Jungen, der am Ende der Straße wohnte.
So wurde ich fünfzehn und dann sechzehn Jahre alt. An meinem achtzehnten Geburtstag sollte Hochzeit sein. Zuvor begannen jedoch die dunklen Jahre. Wir wussten damals nur noch nicht, dass es der Anfang vom Ende war. Als wir hörten, dass die Wachen von unseren Grenzen abgezogen worden waren, beunruhigte uns dies nicht weiter. Wir forschten auch nicht nach den Ursachen. Zu lange schon war uns Friede und Wohlstand geschenkt gewesen. Die Vorstellung, dass uns eine Gefahr drohen könnte, war uns mit den Jahren fremd geworden.
Doch Argonat war ein vorsichtiger Mann. Er sammelte seine Hüter um sich und machte sich zu den Grenzen auf, um dort seine Leute zu postieren. Er ließ nur eine kleine Schar als Wache zurück und wollte selbst in wenigen Wochen wiederkommen. So nahm der Alltag seinen Lauf, und alles ging seinen gewohnten Gang. Nur für mich traf dies nicht zu. Ich hatte mich schließlich um meinen kommenden Gemahl zu sorgen. Deshalb wandelte ich jeden Tag um die Mittagszeit zur Stadtmauer und stieg auf den höchsten Turm. Dort stand ich, eine hohe, schlanke Gestalt im weißen Kleid, das im Wind flatterte, und sah versonnen in die Ferne. In der Stadt wurde überall über mich und meine Treue geredet. Um die Mittagsstunde sah man auf den Turm, und man sah mich.
So vergingen die Tage und die Wochen, und niemand wurde unruhig. Nur erregte ich bald kein Aufsehen mehr, und die Gänge zum Turm wurden mir lästig. Zu Hause war ich von Fürsorge und Verständnis umgeben. Man nahm Rücksicht auf mich und meine Sorge. So mancher gute Bissen wurde mir zugesteckt, und alle versuchten, mich aufzuheitern und redeten mit mir nur über schöne Dinge.
Dann endlich begann man sich in der Stadt doch Sorgen zu machen. Dunkle Gestalten waren in unseren Mauern aufgetaucht, und niemand war da, der sie aus der Stadt hätte weisen können. Zwei der zurückgelassenen Wachen fand man eines Morgens mit durchschnittenen Kehlen, und ein Dritter wurde abgestochen, als er eine Rauferei schlichten wollte. Der Vierte ward nicht mehr gesehen, und man wusste nicht, ob auch er ermordet oder nur geflohen war. Im elterlichen Haus herrschte nun Trübsinn und Sorge. Vater war gereizt, und beim Essen wurde kaum noch ein Wort gesprochen. Schlimme Nächte begannen. Wilde Horden zogen nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen, warfen Fensterscheiben ein und verprügelten Bürger. Doch das genügte ihnen bald nicht mehr. Sie begannen, Türen aufzubrechen, schlugen die Menschen nieder und plünderten die Häuser. Und da war niemand, der ihnen hätte Einhalt gebieten können. Von Tag zu Tag wurden die Schurken zahlreicher, und das Leben in der Stadt unerträglicher. Bald konnte man sich auch am Tag nicht mehr auf die Straße wagen.
Vater trug nun Waffen und hatte alle seine Knechte im Haus versammelt. Nachts wurden Wachen aufgestellt. Die reichen Kaufleute trafen sich bei uns und berieten, was zu tun sei, aber niemand wusste einen brauchbaren Rat. Man beschloss die Habe der Familien aus der Stadt zu schaffen und bereitete die Flucht vor. Doch die Kunde, die von außerhalb der Mauern kam, verhieß nichts Gutes. Dort wüteten die Banden noch schlimmer als in der Stadt. So wurde die Abreise immer wieder aufgeschoben. In dieser Zeit saß ich oft im Garten und versuchte, mir über meine Gefühle klar zu werden. Ich musste um meinen zukünftigen Gemahl trauern und empfand doch keine Trauer. Gleichzeitig aber sah ich mich als Witwe, die nun ohne einen Mann ins Grab würde gehen müssen. Wie bedauerte ich mich dafür, ich dummes törichtes Geschöpf!
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