Als dann die Macht der Könige nach den schrecklichen Kriegen mit Ormor zerbröckelte, war es um den Schutz von Paradland geschehen. Von überall strömten nun Banditen zusammen, und die Mächtigen, die sich so lange hatten zurückhalten müssen, marschierten mit ihren Truppen ein. Da wurde geplündert und gebrandschatzt. Die Bauern folterte man, um ihnen das Versteck ihrer Schätze abzupressen. Die Frauen wurden vergewaltigt, und die Kinder abgeschlachtet.
Als die Heimsuchungen endlich aufgehört hatten, war Paradland entvölkert und verwüstet. Weite Landstriche waren nur noch öde und ohne Leben. Auf den einst so fruchtbaren Feldern wuchs nichts mehr. Die Straßen verkamen zu Wegen, und die Städte verfielen zu unbedeutenden Orten, deren Bewohner sich nur unter großen Mühen über die Winter brachten. So vergingen der Ruhm und der Glanz von Paradland. Olifo werden wir morgen erreichen. Ich bin sicher, von euch ist noch keiner dort gewesen. Und auch ich weiß nicht, wie es heute dort aussieht."
Schon von weitem sahen sie Rauch aus den Schornsteinen des Städtchens quellen. Die Mauern, die einst die Stadt und den Markt geschützt hatten, waren eingefallen und geschleift, doch boten ihre Reste den Häusern noch immer Windschutz. Ein abgetragener Turm ragte als Stumpf in den Himmel. Trotz allem machte der Ort einen sicheren Eindruck. Alle freuten sich auf eine Unterkunft und eine ruhige Nacht. Doch bevor sie in der Stadt Einzug halten konnten, mussten sie an mächtigen Galgen vorbei. Zwei Männer und eine Frau hingen dort. Sie hatten verzerrte Gesichter, eine blaue Zunge quoll ihnen aus dem Mund. Ihre Hände waren auf den Rücken gebunden und die Beine seltsam verkrampft. Man hatte sie lange am Strick tanzen lassen, bevor sie erstickt waren. Niemand hatte sich ihrer erbarmt und sich an ihre Füße gehängt. Es war klar, die Bewohner wollten Gesindel abschrecken und hatten Exempel statuiert.
Es dämmerte bereits, als der Wagen zwischen den Häusern zum Halten kam. Diese waren zwei- und dreistöckig und ragten mit ihren Giebeln so weit in die Straße vor, dass zwischen ihnen kaum noch etwas vom Himmel zu sehen war. Männer mit Spießen und grimmigen Gesichtern traten auf die Straße. Sie fragten nach dem Begehr der Reisenden, und Aramar erklärte, dass sie nach Whyten wollten und ein Quartier für die Nacht suchten.
Quartiere gäbe es in der Stadt nicht mehr, wurde ihm geantwortet, und es wäre für alle besser, wenn sie weiterzögen.
Dies wolle man gerne tun, stimmte der Zauberer zu, aber nicht mehr in dieser Nacht. Dann kümmerte er sich nicht weiter um die Wachen und ihre Waffen, sondern ging an ihnen vorbei, und die anderen folgten ihm, nachdem sie den Wagen abgestellt und die Tiere versorgt hatten. Obwohl die Nacht noch nicht hereingebrochen war, konnte man auf der Straße kaum etwas erkennen. Es roch nach Abfällen, Kot und Urin. Wenn man nicht aufpasste, stolperte man über Hühner, die im Dreck der Straße scharrten und gackernd durch offene Fenster in die Häuser flogen. Schweine versperrten den Weg. Sie wühlten mit ihren Rüsseln in den Abfällen, die aus den Häusern einfach auf die Straße geworfen worden waren. In diesem Augenblick leerte gerade eine Frau einen Eimer mit schmutziger Brühe in die Gosse und bespritzte die Sängerin. Die protestierte lautstark, aber niemand kümmerte sich darum. Achtlos wurde die Tür wieder geschlossen.
„Ich muss einen Besuch machen“, sagte Aramar. „Ihr wartet hier!"
„Warum sollen wir hier warten?" meldete sich Urial zu Wort. „Habt Ihr nicht von Vertrauen gesprochen und dass Reisende untereinander keine Geheimnisse haben dürfen? Ihr nehmt Euch das Recht heraus, einfach zu verschwinden, und wir sollen uns damit abfinden!"
Aramar schaute ihn in dem Zwielicht lange an. Er versuchte etwas zu erkennen, was seine Augen nicht sahen. Dann gab er nach.
„Es ist gut. Ihr könnt alle mit mir kommen. Ich suche eine alte Frau und weiß nicht einmal, ob sie noch lebt."
Gemeinsam gingen sie weiter, bis er plötzlich stehen blieb. Das Haus lag am Ende der Straße und stand ein wenig frei. Es gab sogar Platz für einen kleinen Vorgarten. Früher mussten hier reiche Leuten gewohnt haben, aber nun war das Anwesen zerfallen. Die oberen Stockwerke fehlten, und nur noch das Fachwerk ragte wie ein Gerippe in die Luft. Der Zauberer pochte gegen das schwarze Holz. Es dauerte eine Weile bis der eiserne Riegel zurückgeschoben und die Tür einen Spalt geöffnet wurde. Ein kleiner Kopf mit weißem, schütterem Haar wurde sichtbar, und eine dünne Greisenstimme fragte: „Wer ist da? Was ist Euer Begehr?"
„Aramar ist hier, Axylia. Der, den man auch den Blauen Alten nennt. Ich bin gekommen, um dir meine Aufwartung zu machen."
Niemand sagte etwas, nichts bewegte sich. Dann flog mit einem Knall die Tür auf, und ein kleines, altes Weibchen stürmte heraus und fiel dem Zauberer um den Hals.
„Wie freue ich mich, dass du da bist! Deine Rückkehr ist die beste Überraschung, die diese trostlose Stadt seit langem erlebt hat. Komm herein, komm herein! Aber wen hast du denn da mitgebracht? Ich sehe, du reist mit großem Gefolge."
Drinnen war es eng, aber wohlig warm. In der Esse brannte ein kleines Feuer. Der Raum war spärlich eingerichtet und so niedrig, dass alle Männer außer dem Zwerg die Köpfe einziehen mussten. Die Frau holte zwei geschnitzte Stühle aus dem Nebenraum, dann hatten alle einen Platz gefunden.
„Nun erzähl aber“, sagte sie. „Wo kommt ihr her, und wo geht ihr hin?"
Zuerst stellte Aramar jeden der Reisegesellschaft vor. Nur bei Urial stockte er, nannte dann jedoch dessen Namen und Beruf.
„Ein Zauberer, und sogar einer, der heilen kann?" fragte die alte Frau interessiert. „Das ist gut. Auch ich habe mich ein wenig mit der Heilkunde beschäftigt. Vielleicht können wir später einige Erfahrungen austauschen?"
„Ich glaube nicht, dass wir dazu Zeit finden werden. Im Übrigen habe ich die Heilkunde studiert und bin von meinen Oberen geprüft worden. Welche Erfahrungen hätte ich mit einem Kräuterweiblein auszutauschen?" wurde ihr barsch von Urial beschieden.
Unterdessen hatte Axylia einen großen, eisernen Topf über das offene Feuer in der Esse gehängt. Ihn füllte sie mit Wasser aus einem Eimer und schüttete, als es kochte, zerstampfte Hirse und Weizen hinein. Dann holte sie aus der Speisekammer ein Säckchen mit getrockneten Kräutern und würzte den Brei sorgfältig. Während er kochte, rührte sie ihn beständig mit einem langen hölzernen Löffel um. Schließlich servierte sie die dampfende Köstlichkeit auf Holztellern. Jeder zog seinen Löffel aus der Tasche, und dann wurde eine Weile nichts mehr geredet.
„Wo können wir schlafen?" fragte Aramar endlich. „Gibt es hier ein Gasthaus?"
„Die Zeiten, wo hier Fremde übernachtet haben, sind schon lange vorbei. Früher gab es hier eine Herberge neben der anderen. Heute sehen wir Fremde lieber von hinten, und beherbergen tun wir sie schon gar nicht. Wenn ihr also in dieser Stadt bleiben wollt, müsst ihr als Bett mit dem Boden dieser Stube vorliebnehmen."
Sie holte aus der Speisekammer einen bauchigen Krug und schenkte jedem einen tüchtigen Schluck Wein in einen Holzbecher.
„Wenn ihr Wasser dazu tun wollt, dort steht der Eimer."
Alle lehnten dankend ab und schlürften langsam das starke Getränk. Jedem wurde noch einmal nachgeschenkt.
„Wovon leben die Leute hier?" fragte Fallsta.
„Das ist eine gute Frage. Auf jeden Fall sind die Zeiten des Reichtums lange vorbei. Auf den einst so fruchtbaren Feldern wächst heute kaum noch etwas. Der Boden ist so getränkt mit Blut und Tränen, dass dort keine Pflanzen gedeihen. Nur hartes Gras und dornige Büsche können überleben. Davon ernähren sich Schafe. Aber auch sie werden nicht fett. Die Wolle verkaufen die Leute nach Norden und über die Berge nach Osten. Auf diesen Reisen sind sie lange unterwegs. Sie nehmen auch Besen und Körbe mit, die von einigen Familien gebunden und geflochten werden. Der Erlös ist kärglich und lohnt kaum die Mühe der weiten Fahrten. Aber was soll man machen? Von irgendetwas muss man in Olifo leben. Was ist nur aus der einst blühenden Stadt geworden?"
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