Die Abenteurer knieten nieder, und die Älteren gaben ihnen ihren Segen. Dann kam der Abschied mit Küssen und vielen guten Wünschen. Alle hatten Tränen in den Augen. Vater und Mutter blieben zurück, während die Kinder in die Welt zogen. Die jungen Leute kletterten auf die Rücken der Ponys und trabten los. Im Gang leuchtete ein schwaches Licht, das sie begleitete, bis sie das Tageslicht wiedersahen. Marc und Akandra ritten sieben Tage. Der Gang war breit und gerade und stieg stetig an. Hin und wieder rasteten sie, schliefen und aßen von den Vorräten, die sie in den Satteltaschen fanden. Auch Heu für die Pferde war vorhanden. In Abständen rann Wasser die steinernen Tunnelwände herab, von dem sie tranken. Am achten Tag sahen sie weit vor sich einen Lichtschimmer und gaben den Pferden die Sporen. Im Galopp jagten sie auf das Ende des Ganges zu. Dann standen sie im blendenden Licht der Sonne.
Süden
Akandra und Marc haben von den Älteren den Auftrag erhalten, nach Osten zu reisen. Sie sollen dem König der Rutaner die Zauberkette abnehmen und damit ihn und sein Volk aus dem Bann der Vespucci befreien. Gelingt dies, so wird das Kräftegleichgewicht zwischen den beiden so verschiedenen Völkern wiederhergestellt. Dann werden die Vespucci von ihren Nachbarn in Schach gehalten und können sich nicht mehr um Centratur kümmern. Ihr Eroberungswille wird gedämpft. Ohne den Einfluss der Glatzköpfe lässt aber auch die Macht des Zauberkönigs Ormor nach. Die Menschen in Centratur können dann ihn und seine ihm treu ergebenen Völker besiegen.
Wie schlimm die Zustände auf dem Kontinent bereits sind, erlebt eine Reisegesellschaft, die tief im Süden unterwegs ist. Ihre Mitglieder haben sich zufällig getroffen und wandern auf der Alten Südstraße zur Pforte von Equan.
Die Reisegesellschaft
Es regnete seit Tagen. Sie waren durchfroren und sehnten sich nach etwas Wärme. Doch das nasse Holz wollte trotz aller Mühe, die sie sich gaben, nicht brennen. Sie hatten die unteren Äste der niederen Tannen, die immer trocken bleiben, abgehackt und sich dabei Arme und Gesicht zerkratzt. Bevor sie aber mit Feuerstein und Zunder ein kümmerliches Flämmchen erzeugen konnten, war das trockene Holz vom Regen so durchnässt, dass selbst Blasen und andere Bemühungen fruchtlos blieben.
„Wir werden wohl wieder kalte Bohnen essen müssen, dabei hängt mir dieser Fraß zum Hals heraus."
„Du wirst dich noch nach kalten Bohnen sehnen, es gibt nämlich keine mehr. Die letzten haben wir heute Mittag gegessen und neue können wir nicht kochen."
„Ich habe aber einen Riesenhunger und friere mir den Hintern ab. Eine warme Suppe und ein Becher Tee wären das Schönste, was ich mir vorstellen kann." Galowyn klapperte mit den Zähnen und war ganz blau im Gesicht. „Und dann dieser ewige Regen! Vorgestern Regen, gestern Regen, heute Regen, morgen Regen! Ich hasse Regen. Warum gibt es nichts Ordentliches zu essen? Du bist meine Dienerin! Du hast dafür zu sorgen, dass es mir gut geht. Die Grundlage allen Wohlbefindens aber ist das Essen. Also tue etwas! Besorge etwas Gutes."
„Als deine Dienerin würde ich das sicherlich versuchen und mich sogleich quer durch Centratur auf den Weg machen. Aber ich bin nicht deine Dienerin. Dienerinnen werden nämlich bezahlt. Ich aber habe schon seit Monaten keinen Heller mehr gesehen. Du hast zurzeit keine Dienerin, wann kapierst du das endlich?"
„Mit dem Hinweis auf das Geld versuchst du nur, deine Unfähigkeit zu entschuldigen. Du bist die schlechteste Dienerin, die ich jemals hatte."
„Dienerin? dass ich nicht lache! Du hattest nie Dienerinnen, sondern immer Sklavinnen. Wer sich nicht versklaven lassen wollte, lief von dir weg, so rasch es ging."
„Kommt schöne Frau, wir kriechen unter den Wagen, da ist es wenigstens halbwegs trocken." Eine ruhige Stimme versuchte den Streit zu beenden. Die Worte kamen von einer seltsamen Gestalt. Sie war lang und spindeldürr. Schüttere Haare umrahmten ein eingefallenes Gesicht mit rotem Bart.
„Ihr solltet ganz ruhig sein! Wer hat mir seit Tagen versprochen, dass wir in der kommenden Nacht ein Dach über dem Kopf haben würden?" Die Angriffslust der Dame hatte ein neues Ziel gefunden.
„Sicher, ich habe gesagt, dass wir nach Rudia und damit in bewohnte Gebiete und zu Menschen kommen werden. Ich konnte nicht wissen, dass sie die Stadt vor uns verrammeln."
„Ach, das lag doch nur an Euch. Die haben Euch gesehen und das Schlimmste vermutet. Nur Euretwegen bekamen wir kein Quartier. Ich will Euch etwas gestehen, wenn ich an Stelle der Leute gewesen wäre, hätt’ ich Euch auch nicht rein gelassen."
Der hagere Mann war beleidigt: „Niemand zwingt Euch, mit uns zu reisen. Wir haben Euch nicht um Begleitung gebeten. Ich erinnere mich, dass es genau umgekehrt war. Ihr könnt Euch, wenn es beliebt, noch heute Nacht von uns trennen. Dann habt Ihr vielleicht endlich Gelegenheit, wieder unter Menschen zu leben."
Soweit wollte es die Frau doch nicht kommen lassen und lenkte ein: „Lassen wir den dummen Streit! Davon wird der Regen gewiss auch nicht aufhören. Verdammt, wenn das so weitergeht, bekomme ich noch eine Erkältung und verliere meine Stimme. Ja, ich verliere meine Stimme! Ihr wisst doch, meine Stimme ist das Wertvollste, was ich habe."
„Da habt Ihr aber Glück, Gnädigste, dass ich zu Eurer Begleitung gehöre. Seid unbesorgt, ich werde Euch Eure Stimme wiedergeben, wenn ihr sie verliert." Ein junger Mann war unbemerkt aus dem Schatten des Waldes getreten. Er hatte schon eine Weile belustigt dem Disput zugehört. Trotz seiner weißen Haare war er sicher noch keine dreißig Jahre alt.
Der Hagere war dankbar für die Unterstützung: „Es ist schon ein Segen, schöne Frau! Bei uns ist Meister Urial, ein Zauberer, der wird für Eure Gesundheit sorgen."
„Ach, lasst mich in Ruhe. Von dem ganzen Geschwätz werde ich nicht satt und warm wird mir davon auch nicht."
Die Frau, die den Streit vom Zaun gebrochen hatte, war groß und trug das dunkle Haar kurz. Sie hatte die Dreißig bereits weit hinter sich gelassen, sah jedoch noch immer gut aus. Sie gehörte zu den Frauen, nach denen sich jeder umdreht, und die sich dessen auch bewusst sind. Bis zu einem gewissen Alter erreichen sie alles, was sie wollen, mit einem Augenaufschlag. Wenn sie älter werden, brauchen sie sehr lange, um zu begreifen, dass im Spiel des Lebens Jüngere an ihre Stelle getreten sind, und Erfolge nun auf andere Art errungen werden müssen. Aber davon war Galowyn, so hieß die Sängerin, noch ein paar Jahre entfernt. Ihr Kleid war aus einem kostbaren Stoff gefertigt und hatte einen eigenwilligen Schnitt. Was kümmerte es seine Trägerin, dass es inzwischen fadenscheinig und ausgeblichen war. Die Zeiten würden sich auch wieder ändern.
Die Nacht brach schnell herein, und im letzten Licht des Tages bereiteten sie sich ein Lager. Der Wagen wurde so weit wie möglich in den Wald geschoben, so dass er auf weichen, trockenen Nadeln stand. Vor den Wagen spannten sie eine Plane als Vordach. Dann krochen sie der Reihe nach ins Trockene, zogen die nassen Oberkleider aus und wickelten sich hungrig und zähneklappernd in ihre Decken. Sie stellten keine Wachen auf. Noch hielten sie Centratur für sicher.
Alle schliefen bis weit in den nächsten Tag hinein. Als sie merkten, dass es noch immer regnete, hätten sie am liebsten noch länger geschlafen. Es war noch etwas trockenes Brot und gesalzener Fisch übrig. Sie verzehrten diese Reste lustlos als Frühstück. Dann wurde das magere Maultier vor den Wagen gespannt, die Bündel unter der Plane verstaut. Sie machten sich auf den Weg. Der junge Zauberer saß auf dem Kutschbock. Die Sängerin hatte sich ohne lange zu fragen neben ihn gesetzt. Die anderen mussten laufen, protestierten aber nicht.
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