werden kommen
Kleine Leute
und werden
dem König
die Kette abnehmen."
Totenstille war in der großen Halle, und dann sagten die Älteren feierlich: „Wegen dieser Worte seid ihr hier bei uns in der Unterwelt."
Die Aussendung
In Marc keimte ein fürchterlicher Verdacht: „Soll das etwa heißen, ihr schickt uns nach Rutan?"
„Ja!"
„Aber woher wollt ihr wissen, dass einer von uns beiden der Auserwählte ist, der dem König die Kette abnehmen kann?"
„Ich weiß es, und die Prüfungen, die ihr bestanden habt, bestätigen dies. Ihr seid dazu ausersehen, den König zu befreien."
„Und wer von uns beiden?" fragte Akandra.
„Das ist vom Schicksal noch nicht bestimmt, oder ich kann es noch nicht erkennen. Deshalb müsst ihr beide gehen."
„Nein, das könnt ihr nicht verlangen!" Marcs Gesicht war weiß wie Kalk. Er zitterte am ganzen Körper.
„Wir verlangen es nicht. Wir stellen euch nur vor die Wahl. Niemand kann euch zwingen. Ihr müsst freiwillig gehen, sonst ist die Mission schon im Anbeginn gescheitert."
„Aber wir müssen doch zurück ins Heimland. Die Orokòr werden alle Erits überfallen, töten oder versklaven. Wir müssen warnen und helfen." Marcs Einwände klangen verzweifelt und hilflos. „Wir können jetzt nicht auf große Fahrt gehen, wir werden hier gebraucht."
„Die Rettung des Heimlands ist nicht eure Aufgabe. Um eure Heimat müssen sich andere kümmern. Helft, indem ihr den Ursprung der Gefahr bekämpft! Ihr müsst gegen die Anstifter vorgehen und nicht gegen ihre Schergen."
„Aber wie können wir, zwei schwache Erits, helfen? Warum sucht ihr nicht eine Gruppe starker, kampferprobter Menschen, vielleicht auch tapfere Zwerge oder gar weise, mutige Achajer? Sie alle sind stärker und besser geeignet als wir. Gerade Erits sind hilflose Geschöpfe und töricht im Kampf und im Umgang mit fremden Mächten. Ich bin sicher, wir würden unser Ziel niemals erreichen, geschweige denn diese Mission ausführen können."
„Oh, dieser Meinung bin ich nicht. Der treffliche Aramar sagte stets, dass die Erits immer für eine Überraschung gut sind. Ihr seid, wenn man ihm glauben darf, ein Volk, das zu unglaublichen Leistungen in der Lage ist. Natürlich nur, wenn es darauf ankommt. Aber jetzt ist die Stunde der Not und der Gefahr. Nein, stellt euer Licht nicht unter den Scheffel und besiegt eure Angst. Ihr werdet an der Aufgabe wachsen."
„Wenn ihr so sicher seid, dass wir die Richtigen sind und gehen sollen, könnt ihr uns dann einen Erfolg garantieren?"
„Das kann ich natürlich nicht. Ich muss euch sogar wahrheitsgemäß darauf hinweisen, dass ihr großen Gefahren entgegengehen werdet. Diese Gefahren werden sogar noch größer sein, als sie damals Til und Mog im Großen Krieg erlebt haben. Euer Tod in diesem Abenteuer ist sogar wahrscheinlicher als euer Sieg."
„Was ist, wenn wir diese Mission erfolgreich beenden?" Akandras Stimme war ruhig.
„Wir werden es aber nicht schaffen“, fiel ihr Marc ins Wort. „Man wird uns schon auf dem Weg nach Rutan umbringen und wahrscheinlich zuvor foltern und noch andere scheußliche Dinge mit uns anstellen. Wir werden den Weg in die fernen Lande nicht finden. Wir sind noch nicht einmal richtig erwachsen. Selbst erwachsene Erits wie mein Vater müssten bei dieser Aufgabe versagen. Ich weiß nicht, ob sogar Aramar sie bewältigen könnte. Akandra, wir sollten nicht so größenwahnsinnig sein und diese wahnwitzige Mission übernehmen!"
Die junge Frau achtete nicht auf sein angstvolles Stammeln und wiederholte ihre Frage: „Was geschieht, wenn es uns gelingt, dem König die Zauberkette abzustreifen?"
„Nun, wenn der König der Rutaner aus Pareiras Bann befreit ist, wird er sein Volk zum Kampf gegen die Vespucci führen. Der Zorn über die Demütigung ihres Königs, die sie so lange hatten hinnehmen müssen, wird den Kampfesmut der Rutaner ins Unermessliche steigern. Selbst wenn es den Rutanern nicht gelingt, die Vespucci zu besiegen, so werden sie doch dieses Volk der toten Dinge so beschäftigen, dass es für die Eroberung der Welt keine Zeit und auch keine Kräfte mehr hat.
Aber, und das macht diese Mission besonders gefährlich, die Vespucci kennen auch die Verheißung. Es gibt in jedem Volk einen Verräter, und irgendjemand hat ihnen davon erzählt. Deshalb bewachen sie alle Straßen und Grenzen und töten vorsorglich jeden Angehörigen eines kleinen Volkes. Viele Zwerge mussten schon sterben. Überall lauern ihre Agenten. Auch der Überfall auf das Heimland, den sie durch den Zauberkönig in Szene gesetzt haben, hat letztlich nur den Zweck, mögliche Retter des Rutanerkönig zu eliminieren. Bis jetzt waren die Vespucci mit ihren Vorsichtsmaßnahmen recht erfolgreich. Ihre Wachsamkeit nahm deshalb in der letzten Zeit ab. Hier liegt eure Chance."
„Die Vespucci sind also zu allem Überfluss auch noch gewarnt. Überall sind Agenten, die nur darauf lauern, Angehörige eines kleinen Volkes umzubringen. Je mehr Einzelheiten ihr berichtet, desto unmöglicher erscheint mir die Erfüllung dieses wahnwitzigen Auftrags."
Marcs Stimme zitterte vor Verzweiflung.
„Sei doch endlich still!" fauchte ihn Akandra an. Dann fuhr sie an die Älteren gerichtet fort: „Also nehmen wir an, die Vespucci werden besiegt. Was dann?"
„Wenn die Vespucci besiegt sind, könnte dies die Wende bedeuten. Ein neuer Anfang wäre möglich. Die Sterblichen hätten die Chance sich ihrer Wurzeln zu erinnern. Die Rechtschaffenen könnten dann verhindern, dass böse Mächte erneut willige Partner auf der Welt finden. Wir, die Älteren, könnten aufklären, die neuen Generationen anders erziehen, das Böse in der Welt gleich im Keim ersticken! Dann bestünde eine Chance, alle die guten Willens sind, für immer aus der Sklaverei, aus der Angst und dem Schrecken zu befreien."
„Für immer?" Marc lachte bitter auf. „Ist dies nicht eine schöne Illusion? Glaubt man nicht nach jedem Sieg, dass alles besser wird? Hält man nicht jeden Kampf für den letzten und doch kommen immer wieder neue?"
„Marc, deine Zweifel sind berechtigt. Natürlich wird es nicht einfach sein. Aber sollte man nicht zumindest den Versuch wagen und sich nicht mit den Übeln der Welt abfinden? Ist nicht schon die Hoffnung selbst ein erster Schritt in die richtige Richtung?"
Der junge Mann ließ sich nicht so rasch überzeugen und wandte schroff ein: „Das sind doch törichte Illusionen. Das Böse, was immer man auch darunter verstehen mag, ist ein Teil in jedem von uns. Ihr redet, als gäbe es einen Feind, der das Böse wie eine Art Krankheit in die Welt bringt, die Sterblichen damit gleichsam infiziert. Das ist doch Unsinn. Niemand glaubt von sich selbst, dass er böse ist, niemand will böse handeln. Wenn er es dennoch tut, und wir alle wissen, dass ununterbrochen Unrecht begangen wird, so glaubt jeder, dass er im Recht ist. Ich, so denkt man sich, handle nur so, weil es mein gutes Recht ist, oder weil die anderen mich dazu zwingen und so weiter und so fort.
Selbst wenn man die Vespucci besiegen könnte, wären doch Mord und Totschlag, Neid und Hader nicht aus der Welt. Den einzigen Weg in die richtige Richtung sehe ich darin, uns selbst zu verändern. Wir sollten nicht glauben, wenn wir irgendwelche Kriege führen, dann würde sich schon alles zum Besseren wenden.
Natürlich müssen wir uns jetzt vor den Orokòr schützen. Aber was soll dieser sinnlose Marsch zu einem fernen Volk, den ihr von uns verlangt? Von mir aus haben die Vespucci die Orokòr und sogar den schrecklichen Zauberkönig aufgehetzt. Meinetwegen sind ihre Agenten überall. Dennoch muss der Kampf ums Überleben hier geführt werden.
Ich bin zwar noch jung, aber ich habe mich, so lange ich denken kann, immer für die Vergangenheit interessiert. Wenn ich also das, was ich von der Geschichte kenne, richtig deute, dann haben alle Leute immer nach irgendeinem Feind in der Welt gesucht. Ihr ganzes Bestreben und damit ihr Glaube und ihre Hoffnung waren stets darauf ausgerichtet, diesen Feind zu vernichten. Wäre er erst ausgemerzt, so meinte man zu allen Zeiten, dann würde alles gut werden. Mit der Begründung, das so genannte Böse bekämpfen zu wollen, hat man aber zu allen Zeiten furchtbares Unheil angerichtet und Unrecht begangen. Wenn zwei sich bekämpfen, so denkt doch jeder, er verteidige sich nur gegen das Böse im anderen.
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