Die Erits waren zu Tode erschrocken. Viele liefen zurück in ihre Häuser, andere warfen sich zu Boden und bedeckten den Kopf mit den Händen. Manche rannten in den Wald und wollten nicht mehr zurück ins Dorf. Noch am nächsten Tag, als alles wie ein böser Traum der vergangenen Nacht erschien, wurde heiß debattiert und die Naturerscheinungen kommentiert. Die Jungen äußerten in diesen Gesprächen viele Vermutungen, wussten aber nichts Genaues. Die Alten hingegen waren in ihrem Element. Aus den reichen Erfahrungen ihres Lebens gaben sie den Grünschnäbeln Hinweise, was sie von den Ereignissen zu halten hatten. Die einen sagten, dass sich durch diese Himmelszeichen ein schlimmes Schicksal ankündige, und dass man sehr auf der Hut sein müsse. Sie sprachen von Pestilenz und Krieg, von Erdbeben und sogar vom Weltuntergang. Andere mit grauen Haaren lachten über den Aberglauben. Derartige Zeichen der Natur hätten sie in ihrem Leben schon häufig gesehen, und nie sei etwas Schlimmes danach passiert. Sie schalten die Mahner und Unheilkünder als Narren und Angstmacher.
Die Leute im Heimland spalteten sich in zwei Lager. Jedes Gespräch, ob im Wirtshaus oder am Gartenzaun, endete in unversöhnlichem Streit. Über die Sonne, den Nachthimmel und die Hitze vergaßen die Erits alles andere, was in der Welt vor sich ging.
Dabei gab es gewiss wichtigere Themen, die zu besprechen gewesen wären. Die Nachrichten aus dem Ausland wurden nämlich immer besorgniserregender. Täglich liefen Zwerge und andere fremdartige Gestalten hastig über die Straßen zu unbekannten Zielen. Bei ihrer kurzen Rast in Gasthöfen oder am Straßenrand berichteten sie über so manche seltsame Begebenheit und verbreiteten mit ihren Erzählungen Angst und Schrecken.
Dazu wuchs der Strom der Flüchtlinge mit jeder Woche an. Lange Trecks durchquerten das Heimland. Den Leuten war nur die armselige Habe geblieben, die sie mit sich schleppen konnten. Auf ihren Gesichtern stand noch immer die Furcht, und ihre Körper waren gezeichnet von den durchgemachten Leiden. Diese Fremden, die nun überall anzutreffen waren, erschreckten die Erits und machten sie gleichzeitig wütend. Was wollten diese Menschen in ihrem schönen Heimland? Brachten sie das Unheil nicht gleichsam mit? Gab es bei den Erits nicht schon Sorgen genug? Kriege sind sicherlich schlimm, doch wen kümmern Kriege jenseits der Grenzen, wenn im eigenen Garten die Pflanzen verdorren?
Das größte Unglück aber war, dass die beiden Grafen, Pet von Hagen und Marrham, von ihrer Fahrt ins ferne Whyten noch immer nicht zurückgekehrt waren. Der Tod des Königs war für alle überraschend gekommen. Nie hätte jemand damit gerechnet, dass Meliodas aus dem Geschlecht der großen Hochkönige sterben könnte. Nun, nachdem das Ungeheuerliche doch eingetreten war, ging der Kontinent einer ungewissen Zukunft entgegen. In den Herbergen und an den Lagerfeuern, von den Küsten bis zum Thaurgebirge wurde gefragt und gerätselt, warum der Friede nach so kurzer Zeit ein so jähes Ende gefunden hatte. Frech und keck krochen die Kreaturen der Dunkelheit aus ihren Schlupflöchern, in denen sie sich versteckt gehalten hatten. Orokòr tauchten auf und überfielen Reisende. Dörfer und Höfe wurden von marodierenden Soldaten geplündert und in Brand gesteckt. Die Straßen waren nicht mehr sicher.
Wer würde nun die Regentschaft übernehmen? Wer die Guten schützen und die Bösen strafen? Die Ehe von Meliodas mit Lunete, der Achajertochter, war kinderlos geblieben. Es gab keinen Erben. Schon meldeten sich Noble, die bereit waren, die Last der Krone zu tragen. Streit entbrannte unter ihnen um die Königswürde. Ein andermal hieß es, Meliodas habe ein Testament hinterlassen. Der Inhalt sei aber nicht bekannt und seine Gültigkeit umstritten. In Wirklichkeit wusste niemand etwas Genaues von den Vorgängen im fernen Whyten.
Es war ein trüber Abend im Herbst. Mog, seine Frau und die Kinder hatten es sich um den großen Kamin in Gutruh bequem gemacht, als es leise an die Tür klopfte. Verwundert blickten alle auf. Man erwartete so spät keine Gäste mehr. Als Pet die Tür öffnete drang dröhnendes Gelächter in die Stube. Es war ein Gelächter, das Mog über all die Jahre nicht vergessen hatte.
„Aramar“, rief er und sprang auf.
Da trat ihm an der Zimmertür schon der Zauberer entgegen. Er hatte Pet einfach beiseitegeschoben. Der große und der kleine Mann lagen sich in den Armen. Kurze Zeit später, der Gast hatte seine nassen Kleider abgelegt und die Stiefel ausgezogen, saßen sie alle behaglich um das warme Kaminfeuer. Während Ev ein spätes Abendessen zubereitete, trank der Alte gemütlich aus einem Krug Bier und fragte Mog, was sich in all den Jahren in Heckendorf getan habe.
Nachdem Mog ausführlich berichtet hatte, wandte er sich an den Zauberer und fragte: „Was führt dich ins Heimland, Aramar?“
Dieser schaute durch Mog hindurch in weite Fernen. Sein Gesicht war plötzlich sehr ernst und sehr alt geworden. Ein eisiger Schrecken legte sich bei diesem Anblick auf Mogs Herz. So hatte er Aramar nur in größter Not gesehen.
Er wies seine beiden Jungen an, ins Bett zu gehen. Als sie gegangen waren, breitete sich tiefes Schweigen im Raum aus.
„Eure Welt“, sagte der Zauberer endlich, „so die Nachrichten, die mir zugekommen sind, steht vor dem Abgrund. Ich musste zurückkommen, obgleich ich mir vorgenommen hatte, dieses Land nie wieder zu betreten. Ihr hattet endlich einen guten und mächtigen König. Ormor war besiegt, und ihr, so meinte ich, solltet ab jetzt eure Probleme ohne uns Zauberer lösen.
Aber ich glaube, für das, was jetzt auf euch zukommt, wird meine Hilfe noch einmal gebraucht. Schlimme Dinge, so hat man mir hinterbracht, sind in der Zwischenzeit geschehen. Aber noch weiß ich zu wenig und bin auf Vermutungen angewiesen. Im Übrigen eignet sich die Nacht nicht für solch düstere Geschichten.“
„Um Himmels willen“, sagte Mog, „du machst mir Angst. Ist die Not denn schon wieder so groß? Wir haben den Feind doch besiegt und all seiner Macht beraubt?“
„Ich weiß selbst noch nichts Genaues, aber das Wenige erschreckt mich sehr. Doch wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Vielleicht kommt noch Hilfe, obgleich ich keine Vorstellung habe, wer sie bringen sollte. Auf jeden Fall werden wir kämpfen. Aber nun genug für heute. Bei Tageslicht ist das, was ich zu sagen haben, leichter zu ertragen.“
Trotz der Wiedersehensfreude gingen alle bedrückt zu Bett, und Mog und Ev konnten lange nicht einschlafen.
Am nächsten Tag war die Luft klar und rein. Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Mog freute sich herzlich über Aramars Besuch und führte ihn durch seinen Garten und das Haus. Als die beiden Männer auf der schmalen Bank vor der Haustür saßen, begann Mog vorsichtig: „Aramar du hast gestern Abend Andeutungen über die Lage in der Welt gemacht. Darf ich dich nun bei Tageslicht bitten, mir reinen Wein einzuschenken?“
Der Zauberer antwortete nicht sogleich. Nach einer Weile brummte er: „Das ist schon richtig. Du hast ein Recht, alles zu erfahren. Das Dumme ist nur, dass ich selbst bisher recht wenig Konkretes weiß. Also rufen wir uns noch einmal die Geschehnisse der Vergangenheit ins Gedächtnis zurück. Vielleicht sehen wir dann etwas klarer. Mog, erzähl noch einmal die ganze Geschichte, damit wir uns genau erinnern.“
Der Erit nickte. Er erinnerte noch einmal an den Großen Krieg, und wie es dazu gekommen war. Noch einmal kehrten die lange vergangenen Ereignisse in ihre Erinnerung zurück. Wie Ormor, allen Friedensbeteuerungen zum Trotz, eines Tages seine Heere in Darken zusammengezogen hatte und gegen die Länder im Süden ins Feld gezogen war. Wie seine Schergen rücksichtslos alle umgebracht hatten, die sich ihnen in den Weg stellten. Am schlimmsten von allen wüteten die Orokòr. Schwarze, wilde Gestalten mit Raubtierzähnen. Sie mordeten mit Lust. Fleisch aßen sie roh, und manchmal verspeisten sie sogar gefallene Gegner. Sie waren brutal und ohne Erbarmen.
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