Elisabeth gestikuliert heftig mit den Händen.
„Sie müssen links einspuren“, ruft sie, weil Bernard keine Anstalten macht, zum Krankenhaus zu fahren.
„Ich weiß“, knurrt Bernard, obwohl er das Krankenhaus schon wieder vergessen hat.
Entgegen Bernards Erwartung sagt Elisabeth bloß noch: „Hure, hat sie zu mir gesagt. Verstehen Sie? Hure.“
Beim Krankenhaus begreift Bernard, dass Elisabeth nicht mehr weitersprechen will, weil das, was sie zu sagen hätte, wirklich niemand etwas angeht. Nicht diese Kranken-schwester. Nicht jenen Arzt.
Elisabeth tastet nach Bernards Hand, hält ihn aber nicht mehr am Handgelenk, sondern legt ihre Hand in seine Hand. Er spürt ihre feuchte Innenhand und merkt, dass Elisabeth Angst hat. Hand in Hand gehen sie wie zwei Verliebte durch das schwere Krankenhausportal.
Sie gehen vorbei an weiß gekleideten Männern und Frauen. Es ist ihnen nicht anzusehen, wer Arzt, Krankenschwester oder Hebamme ist. Elisabeth und Bernard gehen vorbei an wandelnden Patienten, die in ihre Morgenröcke gehüllt den Geruch des ewigen Morgens verbreiten. Sie gehen vorbei an Menschen, die gesund sind, die aber wie Bernard und Elisabeth etwas über das Schicksal Erkrankter oder Verunfallter erfahren möchten. Sie gehen vorbei an Menschen, die die letztendlich mögliche und in Krankenhäusern gar nicht so seltsame Antwort vom Tod erhalten haben. Sie gehen vorbei und sagen nichts, außer ein müdes unterdrücktes „Grüß Gott“ oder „guten Tag.“
Nahe jener Tür, vor der Elisabeth und Bernard warten sollen, steht eine Bank und darauf sitzt, den Kopf in die Hände gestützt, eine Frau, die sich auch nicht regt, als Elisabeth und Bernard an ihr vorübergehen. Ja, auch an ihr gehen sie grußlos vorüber weil Bernards „guten Tag“ von Elisabeth flüsternd abgewürgt wird. Ihr gezischtes „Das ist sie“, überrascht Bernard und lässt den guten Tag nicht heraus aus ihm.
„Wer?“ fragt Bernard.
„Angelika Schweyer“, flüstert Elisabeth und dehnt jede Silbe übermäßig und überdeutlich. Unwillkürlich verzögert Bernard den Schritt. Er möchte sich umdrehen. Aber Elisabeth zieht ihn weiter. Sie gönnt der Frau Schweyer anscheinend nicht einmal Bernards „guten Tag.“
Elisabeth und Bernard im Krankenhauskorridor. Das Stehen auf hellen Kunstmarmorplatten macht müde. Bernard überlegt und kommt zum Schluss, dass dies auch auf dunklem Marmor nicht anders wäre. Langsam beginnen die Fußballen zu schmerzen. Die Zehen. Die Waden. Auch über das Schienbein setzt sich der Schmerz fort. Unwillkürlich tritt man von einem Fuß auf den andern. Elisabeth sieht dabei aus, wie ein tänzelndes Zirkuspferd. Später, wenn auch ein Fußwechsel keine Entspannung mehr bringt, sucht sich dieser dumpfe, ziehende Schmerz einen Weg über die Lendenpartie zum Rückgrat. Noch ein wenig später nistet er sich in den Schultern ein, die durch ein Stechen gemartert werden und manchmal zu zittern oder zu zucken beginnen. Wenn dann noch keine Entlastung eintritt, glaubt man das Schmerzen überall zu spüren.
Elisabeth hat sich an Bernard gelehnt. Er kann ihre Haare riechen und ihre rechte Brust auf seiner linken Brust fühlen, ohne Herzklopfen zu spüren oder was sonst dazugehören mag. Sie erschrickt als sich hinter ihr eine Tür öffnet, zwei Männer in Weiß heraustreten und in Richtung Angelika Schweyer gehen, wo sie sich als Ärzte zu erkennen geben.
Bernard sieht, wie die Ärzte sich gegenseitig durch Blicke verständigen. Offenbar fällt ihnen etwas schwer.
„Wie geht es ihm?“ fragt Frau Schweyer.
Die Antwort der Mediziner, „den Umständen entsprechend“, passt in diese Art verkrampften Gesprächs.
„Seine inneren Verletzungen bereiten uns Sorgen. Nicht die diversen Brüche. Wir mussten operieren und es lässt sich nur schwer eine Prognose wagen.“
Angelika Schweyer ist nicht anzumerken, dass sie nach dieser Meldung trauriger, erschrockener oder unbeherrschter wäre. Sie nimmt die Aussage der Ärzte entgegen wie jemand, der nach dem Weg fragt und eine komplizierte Antwort erhält.
Elisabeth steht jetzt zwischen Angelika Schweyer und Bernard. Während sie angestrengt den Worten der Ärzte folgt, geht sie rückwärts, bis sie wieder dicht vor Bernard steht. Diesmal mit dem Rücken zu seiner Brust. Plötzlich gellt ihre Stimme durch den Krankenhauskorridor: „Wer ist Er?“ und als niemand antwortet: „Wen haben Sie operiert?“
Einer der Ärzte dreht sich um, blickt nervös über die Schulter und murrt mit ärgerlicher Stimme: „Herr Direktor Schweyer natürlich.“
„Und Andreas? Der Chauffeur!“
„Der? Der liegt nicht hier. Der liegt in der Allgemeinabteilung. Das hier ist die Privatabteilung, “ und etwas mürrisch fügt er hinzu: „Das sieht man doch!“
Dann gehen die Ärzte. In ihrer Mitte Angelika Schweyer, die noch immer keinen schleppenden Gang mimt, im Gegenteil, deren Schritte kurz sind und dadurch zierlich wirken.
Erst als die Drei hinter der gläsernen Pendeltüre um die Ecke verschwinden, bewegt sich Elisabeth, fasst Bernard wieder bei der Hand und flüstert: „Wir müssen hinüber gehen. Jawohl hinüber.“
Mit „hinüber“ meint sie offensichtlich die Allgemeinabteilung.
Drüben fragen sie nach dem Krankenzimmer des Chauffeurs. Die befragte Pflegefachfrau schüttelt energisch den Kopf: „der liegt nicht auf einem Krankenzimmer.“
„Intensivstation?“
„Nein, auch nicht Intensivstation.“
„Haben Sie ihn entlassen?“
„Nein.“
Damit wird die zweifelnde Hoffnung aus der Welt geschafft.
„Er ist tot“, sagt die Pflegerin, den Blick dem Boden zugewandt. Offenbar hat sie auch durch langjährige Tätigkeit die Scheu vor dem Tod nicht abgelegt.
Elisabeth drückt Bernards Hand fester und wieder spürt er ihre feuchte Innenhand. Er ahnt, dass in Elisabeth etwas vorgeht, was äußerlich nicht erkennbar ist. Auch sie bricht nicht in Weinen aus. Wird nicht einmal blasser. Zittert nicht. Auch ihr Schritt kommt Bernard fest und sicher vor. Jedenfalls stellt er beim Weggehen nichts anderes fest.
Vor dem Krankenhausportal treffen Angelika Schweyer, Elisabeth und Bernard wieder aufeinander. Die zwei Frauen gehen grußlos aneinander vorbei, während Bernard dieses Mal sein „Guten Tag“ hervorpresst. Dieses Mal lässt er sich nicht mehr hindern daran.
Elisabeth und Bernard fahren zurück zum Betrieb, wo Bernard seine Unterlagen und die Personalakte Paul Schweyer liegen hat, die er nach Hause nehmen möchte, um sie zu studieren. Während Elisabeth ihren Wagen über die Straße treibt, fragt sich Bernard, ob es nicht makaber sei, für einen mit dem Tod vielleicht schon vertrauten Menschen, Lebenserinnerungen zu verfassen. Aber er lässt Bedenken nicht zu, weil er der Auffassung ist, dass dieser Mensch nun interessanter werde, dass es gerade jetzt aufschlussreich sein könne, etwas über dessen Leben zu erfahren, etwas, das darüber hinausgeht, wa bisher durch die Medien publiziert wurde.
Auch Elisabeth findet es nicht geschmacklos, wenn Bernard weiter nach Spuren im Leben Paul Schweyers fahndet.
„Ich bin überzeugt“, sagt sie, „dass es im Sinne Pauls ist, wenn Sie auch unter diesen Umständen seinen Auftrag ernst nehmen und seine Biografie verfassen.“
„Soll ich nicht zuwarten bis Herr Schweyer wieder gesund ist, “ fragt Bernard.
„Nein. Nein, verlieren Sie keine Zeit. Jetzt nicht. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass jetzt die Menschen in Pauls Umfeld bereitwilliger Auskunft geben, als dann, wenn er wieder genesen sein wird.“
Dem kann Bernard zustimmen. Menschen werden angesichts von Unglücken oder Unfällen gesprächiger, erinnern sich vermeintlich besser oder genauer. Ob sie auch besser differenzieren können? Bernard weiß es nicht.
„Ich werde Ihnen die Unterlagen holen“, sagt Elisabeth und verschwindet hinter der Portierloge.
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