„Hey! Hallo Mika! Hier ist David!“
„Oh … Hey Dave“ Seine Stimme klingt schon nicht mehr so euphorisch.
„Bist du erkältet?“, fragt David besorgt. „Du hörst dich so verschnupft an!“
„Ach …!“ Mit Mika’s Spontanität ist es auch nicht mehr weit her. „Ich …“
„Bist du traurig?“, fragt David vorsichtig. Er kennt Mika inzwischen schon ganz gut. Und er ist bis jetzt der Einzige, der Mika nicht bedrängt, Keno doch einfach zu vergessen.
„Mhmm“ Mika schnüffelt seine Tränen weg.
„Hast du Lust, mich zu sehen?“, fragt David vorsichtig. „Ich häng alleine zu Hause ab. Ben hat einen Geschäftstermin heute Abend.“
„Klar!“, erwidert Mika und seine Stimmung hellt sich ein wenig auf.
„O. k., so um halb Acht?“, schließt David das Telefonat ab. „Ich bring ‘ne Flasche Wein mit.“
„Ja … super, Dave! Ich freu‘ mich … echt!“
„Bis gleich, Mika!“
Mika lächelt vor sich hin. David ist der Einzige, der nicht „Kleiner“ oder „Blondie“ zu ihm sagt. „Blondie“ ist Ben’s Lieblings-Kosename für Mika. Inzwischen hat er sich ein wenig an Ben gewöhnt. Der wirkt schon nicht mehr ganz so bedrohlich und beängstigend auf Mika.
Was Mika nicht ahnt ist, dass David sich vorgenommen hat, ihm heute mächtig ins Gewissen zu reden. Er hat Mika richtig in sein Herz geschlossen und er ahnt, dass da mehr kaputt gegangen ist als Mika zugibt.
Da ist nur noch wenig von dem offenherzigen süßen Jungen, den David im „Kolosseum“ kennengelernt hatte. Sein Kummer frisst ihn geradezu auf und David hat nicht vor, das länger zuzulassen.
Er selbst ist zweiunddreißig Jahre alt und hat eine ganze Menge gesehen. Da kommt man in der S/M-Szene nicht dran vorbei. Zartbesaitete Seelen sind ein gefundenes Fressen für viele Doms. Sie saugen es geradezu auf, wenn jemand wie Mika verzweifelt kämpft und sich dabei verzehrt.
Doch Keno ist in David’s Augen auf keinen Fall ein professioneller Dom wie Ben. Auch wenn Ben’s distanzierte Art manchmal zu wenig Gemeinsamkeit zulässt, so kann David sich doch darauf verlassen, dass er immer aufgefangen wird, wenn er sich ihm hingibt. Ohne „Wenn und Aber“. Ben hat die Kontrolle – will sie haben – und er hält die Zügel schmerzhaft fest in der Hand.
Keno hingegen – David seufzt bei dem Gedanken an ihn – Keno hat überhaupt nichts unter Kontrolle. Irgendetwas schüttelt dessen ganzes Wesen durch und lässt nicht zu, dass er seine Dominanz in halbwegs geordnete Bahnen lenkt. Er ist wild, ungestüm und ein Chaot vor dem Herrn; ganz klar, dass sich ein Sub wie Mika magisch davon angezogen fühlt. Und wenn dann noch die Liebe, die richtig große verzehrende Liebe, hinzukommt … David presst unbewusst die Lippen aufeinander. Ich muss ihn wachrütteln, denkt er entschlossen.
Einige Stunden später sitzen sie in Mika’s kleinem Wohnzimmer im Schneidersitz auf dem verschossenen Sofa. Eine Pizza musste bereits dran glauben und die Flasche Wein neigt sich dem Ende zu. Mika ist seit langem nicht mehr so locker und halbwegs fröhlich drauf gewesen. David hat ganze Arbeit geleistet.
„Gibt’s eigentlich Neuigkeiten vom großen Meister?“, fragt er schließlich und sein Blick saugt sich geradezu an Mika fest.
Dessen ganze Körperhaltung ändert sich von einer Sekunde auf die andere. Die Schultern sacken nach unten, alle Gesichtszüge ebenfalls. Und Mika’s Blick – Herrgott diese traurigen Augen – Mika’s Blick sinkt zu Boden und klammert sich verzweifelt an einer Teppichkante fest. Er zuckt kurz mit den Achseln.
„Nein“, haucht er betrübt, „das hätte ich dir doch erzählt.“
David räuspert sich kurz. Los jetzt! feuert er sich selbst an. Alle Karten auf den Tisch!
„Mika, sieh‘ mich an“, redet er mit fester Stimme weiter. Und als er Mika’s verlorenen Blick auffängt, spricht er weiter.
„Zeig mir deine Arme, Mika!“, fordert er ihn auf.
Mika’s Augen werden kreisrund vor Schreck. Unwillkürlich fasst er sich an die Unterarme und reibt vorsichtig darüber.
„Nein!,“ wehrt er ab. „Warum denn?“
„Du weißt genau warum!“ David seufzt mitfühlend. „Mika! Was glaubst du, wen du hier vor dir hast?! Du bist nicht der Erste, der sich ritzt, um richtig fühlen zu können.“
Er schiebt sein Hemd ein Stück am Ärmel empor. „Meinst du, ich kenn‘ das nicht?“ Ein paar dünne helle Striche sind auf David’s Haut am Unterarm zu sehen. Mika starrt immer noch mit aufgerissenen Augen zurück, dermaßen ertappt fühlt er sich.
David redet weiter. „Das Schlimmste für Leute wie dich und mich ist, wenn wir plötzlich unsere Gefühle verlieren. Das, was sonst zuverlässig unser Leben bestimmt – und auch oft aus der Bahn wirft – ist auf einmal nicht mehr da. Du fühlst dich abgeschnitten, wie in Watte gepackt und nichts erreicht dich mehr. Zentnerschwere Lasten drücken auf deine Schultern, kein Essen schmeckt mehr, kein Alkohol haut so richtig rein. Keine einzige Emotion berührt dich mehr – außer wenn du dir Schmerzen zufügst.“
Während Mika zuhört, beginnt sein Kopf wie von selbst zu nicken. „Alles ist tot!“, krächzt er und reibt über seine frisch verbundene Wunde. Der Schmerz zieht durch und durch und erlaubt Mika einige Tränen. Hilflos wischt er sie mit dem Handballen weg.
David rutscht näher zu Mika rüber und ergreift eine Hand. Sanft wie mit einem gefangenen Tier redet er weiter.
„Das geht so nicht weiter, Mika! Ich werde nicht zulassen, dass du auf diese Weise dein eigenes Ich zerstörst.“
„Aber was soll ich denn machen??!!“, begehrt Mika auf. Ohne es zu wollen ranzt er David vorwurfsvoll an, als ob dieser Schuld an seiner Misere hätte.
Ja, lass‘ alles einfach raus, denkt David nur und streichelt weiter beruhigend Mika’s Hand.
„Er meldet sich einfach nicht! Ich vermiss‘ ihn so sehr und er … er …“, nach Worten ringend wedelt Mika mit einer Hand herum. „Er lässt mich allein!! Schon wieder!!“ Hektische Schluchzer mischen sich unter seine Sätze. „Und Jana, die … die ist nur noch bei Ed..Edwina. Alle scheißen auf mich! Und ich … und ich …“
Mika hechelt nach Luft. Er kriegt einfach kein Wort mehr raus. Seine Kehle zieht sich wie von selbst zusammen. Er legt seinen Kopf schräg und aus verheulten roten Augen blickt er David geradezu winselnd an. Der wartet nicht länger und zieht Mika nun fest in seine Arme. Beruhigend streichelt er dessen Rücken und wiegt ihn leicht. Nach einigen Minuten atmet Mika tief aus und sein Schluchzen verwandelt sich in ein gelegentliches Schniefen.
David rutscht zurück und reicht Mika ein Weinglas. Mit einem verlegenen Lächeln trinkt dieser einen Schluck und angelt nach einem frischen Tempo auf dem Couchtisch.
„Pass auf, Baby“, setzt David wieder an. „Ich hab auch keine Patentlösungen für alles. Doch auch ich war schon mal so richtig verknallt in einen Typen, der mich nur ausgenutzt und verarscht hat.“
Er hebt abwehrend die Hände. „Schon klar! Ich will damit nicht sagen, dass Keno dich verarscht! Ich will nur die Gefühlslage vergleichen. – Aber, einen Punkt finde ich wichtig für dich, Mika. Lass nicht alles so nah an dich heran! Du musst lernen, bestimmte Dinge aus einer gewissen Distanz zu sehen. Die Sache bei Edwina war wirklich schlimm für dich. Doch wenn du hinfällst, musst du dich nach einiger Zeit berappeln und wieder aufstehen. Das Leben ist nicht vorbei, „nur“ weil dich Jemand verletzt. Ich weiß, das hört sich jetzt ziemlich lapidar an. Doch du darfst deine Situation und deine Gefühle nicht ausarten lassen. Wenn Keno sich nicht im Griff hat, dann musst du es ALLEINE schaffen, mit solchen Dingen klarzukommen. Und ich bin mir sicher, dass du das schaffst. Du bist vielleicht sensibel und sehr gefühlvoll, aber das ist doch nicht alles, was dich ausmacht, oder?“
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