Spät nachts schlug Konstantin die Augen auf. Wieder einmal war er vor der Glotze eingeschlafen, hatte vor der flimmernden Bilderflut kapituliert. Nun war er wach. Aber nicht einfach so. Etwas hatte ihn geweckt.
Er rieb sich die Augen und hievte sich aus dem Sessel. Straßenlicht drang durch die Fenster. In der schummrigen Dunkelheit tastete er sich zum Nachtlicht vor. Einen Augenblick lang zweifelte er daran, tatsächlich wach zu sein. Doch die Gewissheit, dass man nicht schläft, kommt rasch, wenn man nicht schläft.
Etwas pochte leise gegen seine Tür. Was hatte das zu bedeuten? Die Stadtpolizei klopfte an, und die DeSi trat in der Regel gleich die Tür ein. Was also war das? Ein Tier, das sich ins Treppenhaus verirrt hatte? Konstantin schaltete das Licht ein und lugte durch den Türspion. Nichts, nur Dunkelheit. Und das leise Pochen.
»Ist da wer?«, brummte er dumpf. Das Pochen verstummte. Konstantin legte die Kette vor und schob die Tür einen Spalt weit auf. Vor ihm auf der Schwelle kauerte eine junge blonde Frau. Die zierliche Hand umklammerte einen schimmernden Gegenstand.
»Hilfe«, flüsterte sie. »Hilf mir.«
Konstantin löste die Kette und zog das Mädchen auf die Beine. Sie wehrte sich nicht, zitterte nur erbärmlich. Ein junges Ding war sie, halb so alt wie er vielleicht. An ihren Händen klebte Blut.
Auch du, dachte er . Wo ist denn dein Vieh? Brüllt es noch?
Das Mädchen schwieg und schlug die Augen zu Boden.
Konstantin seufzte. Warum nur vor meiner Tür ... und was werden deine Eltern wohl zu diesem Schlamassel sagen? Dann bemerkte er das Blut auf ihrem T-Shirt. Viel Blut.
»Bist du verletzt?«
Kopfschütteln.
Sie drückte sich an ihm vorbei in die Wohnung. Sie war hager, kaum volljährig, ihre Klamotten – abgesehen vom roten Farbeinschlag – abgetragen, verschlissen. Es war unvernünftig, ihr Asyl zu gewähren, hochgradig unvernünftig. Doch die getriebenen blauen Augen rührten ihn an. Da stand sie: ängstlich, neugierig, mit der städtischen Fürsorge, der Stadtpolizei oder Schlimmerem im Schlepptau. Konstantin kannte das Leben auf der Flucht, wusste um die Strapazen, und wie dankbar man für einen trockenen, sicheren Platz war. Es würde gehen. Für den Augenblick.
Plötzlich polterten Schritte durchs Treppenhaus.
Jetzt haben sie mich.
Sieben Jahre Einsamkeit, und jetzt haben sie mich.
Konstantin drückte die Tür zu, sanft wie eine Liebkosung, doch wie ein Donnerschlag sprang sie ins Schloss. Die Schritte rückten näher. Stufe um Stufe. Konstantin presste sein Ohr gegen das Holz. Das Mädchen hatte sich derweil in den Sessel verkrochen, die Finger in die Lehnen gekrallt. Konstantin dachte unwillkürlich an das Blut. Das würde er nie mehr aus dem Polster bekommen.
Draußen waren zwei Menschen. Womöglich drei. Sie schwiegen und kamen von unten herauf. Er wagte nicht, durch den Türspion zu blicken, starr vor Angst.
Jetzt haben sie mich. Und alles nur wegen eines Mädchens.
Stille.
Nichts rührte sich jenseits der Tür.
Dann jedoch polterten die Schritte weiter. Und jemand lachte glockenhell. Das konnte keine DeSi sein. Es war die Hure aus der Wohnung über ihm, die ihren Geschäften nachging. Konstantin sank zu Boden. Beinahe hätte auch er gelacht, wie er da hockte - ein beleibter Buddha, getaucht in goldenes Nachtlicht.
Beinahe.
Nachdem die Lakaien der DeSi verschwunden waren, hielt Aurelius Amelia lange im Arm. Dieser Abend war einer ihrer guten Abende. Er klammerte sie fest an sich, wünschte sich, sie nie wieder loslassen zu müssen.
Der nächste Tag fand ihn unaufgeräumt. Die Suchmeldung nach dem infizierten Mädchen schürte sein Unbehagen. Er sorgte sich um sich selbst und Amelia, was ihn wie ein gehetztes Tier durch den Vormittag flüchten ließ. Zudem jährte sich bald der Todestag seines Vaters. Nicht, dass er den alten Herrn sonderlich geliebt hätte, doch genügte die Erinnerung, das Gemüt zu dämpfen. Zwischen Sitzungen, in denen er sich auf nichts konzentrieren konnte, verkroch er sich in seinem Büro. Er vergoss Kaffee auf dem polierten Eichentisch, verlegte Schlüssel und Unterlagen, verlegte auch Termine. Aurelius war kein Spieler, und das Spiel, in das man ihn verstrickt hatte, war zu undurchsichtig, als dass er dabei gelassen bleiben konnte.
Mit dem ersten Glied ist die Kette geschmiedet. Was wird das nächste sein?
Noch einmal rief er sich die Beschreibung in Erinnerung: Marischka Meierhagen, Alter 16, der städtischen Fürsorge entwichen. Das Bild eines gewöhnlichen Teenagers, der so oder ähnlich sich die Nase an Schaufenstern platt drückt, mit dem Hund durch die Straße tollt oder den Rasen der Nachbarn zurechtstutzt für ein kleines Taschengeld. Dieser Person – hochgradig verwirrt und hochgradig infektiös – sei mit aller Vorsicht zu begegnen. Das glatte, blonde Haar mochte mittlerweile gefärbt, gewellt oder gekürzt sein. Von ihrer zierlichen Statur, ihrer unschuldigen Jugend und den tiefen, blauen Augen aber durfte man sich nicht täuschen, nicht erweichen lassen. Sie war trotz ihrer Erscheinung ... Sie war trotz allem ... Trotz alledem war sie ...
Was war sie?
Das war die Frage, hinter die er nicht zu blicken vermochte. Ein Bild in einem Umschlag, das war sie. Mehr nicht. Nur ein flüchtig dahingekritzelter Name, eine Gesundheitsnummer, zwei Chiffren. Umgehend dem Dezernat für Wohl und Sicherheit zu überstellen, hatte er noch vermerkt, bevor der Suchbefehl seinen Weg in die Dienststellen und zum Mediendezernat antrat.
»Das Moderne Gesundheitsmanagement« flimmerte noch immer auf dem Bildschirm vor ihm. Wie mühsam sich die Worte in die Tasten quälten. Vielleicht wäre auch hier eine Fahndung angebracht? »Pointe im Absatz. Praktische Beispiele gesucht! Möglichst simplifizierend und geringfügig sinnentstellend. Die Wortansammlung ist umgehend dem Gesundheitsdezernat zu überstellen.«
Um den Kopf freizubekommen, machte er einen Spaziergang im Park. Das Gehen half etwas. Er ging die große Schleife, grüßte Patienten, dachte an Amelia, der er hier begegnet war, lief an Passanten vorbei, über Ampeln und stellte schließlich überrascht fest, dass er die Klinik fast drei Blöcke hinter sich gelassen hatte. Seine Schritte hatten ihn auf den Gedächtnisfriedhof geführt.
Was nun?
Schon mal ein Plätzchen suchen?
Wohl kaum.
Etwas anderes trieb ihn voran, und er kannte die Reihe, die Zeile, die Parzelle, zu der es ihn zog. Die Grausamkeiten seines Vaters drangen an sein Ohr, die Beschimpfungen, die er ausgestoßen hatte, nachdem die Mutter sie verlassen hatte. »Deine Schuld! Alles deine Schuld!« Doch wie konnte das sein? Wie konnte ein fünfjähriger Junge schuld daran sein?
Das Grab präsentierte sich in untadeligem Zustand - dank des Gärtners, den er beauftragt hatte und der sich einmal monatlich darum kümmerte. Da stand er nun. Näher war er seinem Vater nie gekommen.
War es auch seine Schuld gewesen, dass der Vater, der einst so talentierte Chirurg, dem Alkohol verfiel, seine Schuld, dass er sich immer wieder Prügel einfing? Vielleicht war es sogar seine Schuld gewesen, als der Vater sturzbetrunken auf dem nächtlichen Weg von der Kneipe nach Hause von einem LKW erfasst wurde. Da war Aurelius sieben gewesen.
In diesem Schuldbewusstsein aufzuwachsen, machte seine Kindheit nicht einfacher. Im Jugendheim pissten sie auf Aurelius' Kleider, schmierten Grütze in seine Bücher, tauchten seinen Kopf in Buttermilch. Er weinte sich in den Schlaf, quetschte sein Kissen, presste es an sich und wünschte sich, das Kissen sei ein Mensch, das ihn trösten und die Grausamkeit vergessen ließ. Doch das Kissen war nur Schaumstoff. Der Schaumstoff, aus dem seine Träume waren.
Und nun war er Sonderbeauftragter des Gesundheitsdezernats. Doch noch immer pissten sie auf seine Kleider und tauchten seinen Kopf in Buttermilch. Selbst die niedersten Lakaien des Schindler-Hannes nahmen sich diese Freiheiten. Gerne wäre er in dem Grab vor ihm versunken. Lautlos. Wäre da nicht Amelia gewesen.
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