„Es ist lange her alter Freund!“
Vitras glaubte zunächst weder seinen Augen noch seinen Ohren zu trauen:
„Meister Brehm! Guillaume hat mir vor Jahren erzählt, dass ihr und eure Schülerin gestorben wärt. Ertrunken im Haktur!“
Der ältere Mann hob seine Augenbrauen leicht an:
„Ertrunken? Im Haktur? Mai und ich? Das habt ihr tatsächlich geglaubt?“ schmunzelnd fuhr Meister Brehm fort: „Wichtig war, dass Harun uns diese Sharade abgenommen hat. Ansonsten hätte er mit Sicherheit einen Weg gefunden, Mai und mich zu töten. Nach eurer Verbannung überschlugen sich die Ereignisse in Kushtur. Ich sah keine andere Möglichkeit mehr, als unseren Tod vorzutäuschen und die Stadt zu verlassen.“
Vitras schloss den Mann, der noch wesentlich älter war als er selbst, in die Arme, während Sanara und Mai die beiden beobachteten. Plötzlich ertönte von den Dächern ein Pfiff, und die beiden Männer lösten sich voneinander:
„Wir müssen schleunigst hier verschwinden. Vor allem aber müssen wir von den Straßen runter.“ Brachte Brehm hervor. Vitras nickte ihm zustimmend zu, woraufhin die vier den Platz verließen und in die Dunkelheit einer kleineren Seitengasse eintauchten. Rund ein Dutzend Bogenschützen, folgten ihnen über die Dächer der Stadt, wobei diese darauf achteten, dass sie keiner neuen Gefahr in die Arme liefen. Brehm führte sie in die Viertel der Adligen. Die staubigen Straßen wurden durch feste Steinstraßen ersetzt, und die ärmlich wirkenden Häuser der unteren Viertel wichen immer mehr den Herrschaftlichen Gebäuden wohlhabender Bürger. Vitras drehte sich mehrmals nach Sanara um, die die ganze Zeit über neben Mai herlief. Es brach ihm beinahe das Herz zu sehen, das all ihre Unbekümmertheit mit einem Schlag von ihr gewichen war. Seine Enkeltochter hatte nicht nur mehrere Menschen sterben sehen, sie hatte selbst ein Leben genommen. Mai hatte schon seit geraumer Zeit ihren rechten Arm um Sanara gelegt, seit sie bemerkte, dass das Mädchen weinte. Zum ersten Mal verfluchte Vitras das Schicksal dafür, dass es an ihm lag, seine Enkeltochter auf die Prophezeiung vorzubereiten. Als sie eine prächtige Allee erreichten, die die Allee der Götter genannt wurde, bemerkte der Kriegszauberer das die Bogenschützen die Dächer verlassen hatten und hinter ihnen her gingen. Sie alle trugen rote Kleidung mit langen roten Umhängen. Wie er später erfahren sollte, gehörten die Männer dem Geheimbund der Roten Rose an. Ein Bund den Meister Brehm gegründet hatte. Die Allee der Götter war zu beiden Seiten mit Statuen, aller Götter der bekannten Welt gesäumt. Selbst Boron, der Göttervater der Barbaren aus dem hohen Norden, war hier vertreten. Vitras fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis man für ES hier ebenfalls eine Statue errichten würde. Als sie an Mirnas Statue vorbeikamen, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Es kam ihm vor, als würde sie mit einem unendlich traurigen Blick, auf ihn und Sanara hinab schauen. Endlich erreichten sie den Palast des Regenten von Diran. Hunderte von Soldaten hatten rund um das gesamte Palastgelände ihr Lager aufgeschlagen. Die rot gekleideten Bogenschützen wandten sich ab und verschwanden in verschiedene Richtungen. Als sie die ersten Zeltreihen erreichten, stellte sich ihnen sogleich ein wachhabender Leutnant mit mehreren Soldaten in den Weg. Als er jedoch Meister Brehm und Mai erkannte, drehte er sich wortlos um und winkte Brehm und sein Gefolge durch.
***
Vitras und Brehm befanden sich in einem geräumigen Arbeitszimmer des Palastes. Ein wuchtiger Schreibtisch stand seitlich eines Kamins, schräg vor einer der vier Ecken des Raumes. Durch ein riesiges Fenster aus buntem Glas, das vom Boden bis zur Decke reichte, konnte man den Schein der Lagerfeuer vor dem Palastgelände erkennen. In der gegenüberliegenden Wand war ein Kamin eingelassen, dessen Feuer eine wohlige Wärme spendete. Das gesamte Arbeitszimmer war mit schweren kostbaren Teppichen Umurs ausgelegt. Ein Diener betrat den Raum, stellte einen Krug Wein samt Bechern auf einen kleinen Beistelltisch, verbeugte sich und verließ wieder den Raum. Mai hatte es sich augenblicklich zur Aufgabe gemacht, Sanara in ihr Gemach zu bringen und sich eine Weile um das aufgewühlte Mädchen zu kümmern. Anschließend betrat auch sie das Arbeitszimmer und schloss die Tür.
„Eure Enkelin schläft jetzt Meister Vitras. Die lange Reise und die Ereignisse des heutigen Abends haben ihr ziemlich zugesetzt.“ plötzlich verzog Mai ihr Gesicht: „Man hätte mich aber gerne wegen des Raubtieres vorwarnen können!“ Dabei zeigte die Kriegszauberin, die in ihrer gesamten Aufmachung, wie ein menschlicher Dämon des Todes wirkte, ihren blutig zerkratzten Handrücken. Erst jetzt bemerkte Vitras das Sammelsurium verschiedenster Wurfwaffen, die sie über ihrer Lederkluft trug. Die aber von der dünnen Robe der Kriegszauberer verdeckt waren.
„Wenn man Sanara näherkommen möchte, muss man zuerst an Filou vorbei!“ erklärte er ihr schmunzelnd: „Das war schon immer so.“
Vitras war beinahe zum Lachen zumute, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Trotzdem hätte er es gern gesehen, wie der kleine Nager dieser Frau die Krallen zeigte. Mai gab nur ein Achselzucken von sich, und schenkte sich einen Becher Wein ein.
„Kriegszauberin Mai also?“ fuhr Vitras fort und blickte fragend zu Brehm. Dieser blickte voller Stolz auf seine Schülerin, die es weitergebracht hatte als ihr Meister.
„Sie hat alle Prüfungen bestanden Vitras. Alle Aufgaben gemeistert, die ein angehender Kriegszauberer zu bestehen hat. Das versichere ich euch. Selbst die letzte Prüfung.“
„Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel mein Freund, nicht den geringsten.“
Daraufhin erhob Vitras seinen Becher in Richtung Mai:
„Es ist mir eine Ehre Meisterin Mai!“
Mai wirkte fast verlegen. Ihr bedeutete dies aus dem Mund eines der letzten lebenden Kriegszauberer sehr viel:
„Ich danke euch, Meister Vitras!“
„Nun denn,“ wandte sich Vitras wieder Brehm zu: „Ich habe eine Menge Fragen an euch. Diese neue Gottheit und ihre schwarz gewandte Priesterschaft. Was hat es damit genau auf sich. Und woher wussten sie von meiner Ankunft in Diran?“ Der alte Mann mit der roten Robe überging geschickt die Frage und zeigte auf einen der einladenden Sessel:
„Ihr solltet euch setzen Meister Vitras!“ Der Kriegszauberer kam Brehms Rat gerne nach. Ihm schmerzten inzwischen die Füße. Dann begann Brehm zu erzählen:
„Kurz nach eurer Verbannung, folgten heimlich fünf Mitglieder des Rates, Harun ar Sabah tief in die Gewölbe unterhalb des Palastes der Magier. Harun hätte sich ihrer niemals erwehren können. Nicht gegen alle fünf. Dennoch kehrte nur Harun lebend aus den Gewölben zurück. Die Wachmannschaften, die in den unteren Gewölben patrouillieren, jedoch nicht in den Tiefen in die Harun hinabsteigt, berichteten von grauenvollen Schreien, als die fünf Räte verschwanden. Daraufhin hat sich Mai heimlich in Haruns Gemächer geschlichen, um nach Antworten zu suchen. Dabei entdeckte sie uralte Papyrus Rollen, die seit Jahrhunderten als verschollen galten.“
Vitras blickte zu Mai, die nun fortfuhr:
„In den Papyrus Rollen ging es um einen längst vergessenen Gott aus dem Singarium, der zu seiner Zeit so unvorstellbar grausam war, dass die Götter ihn verbannten. Sie tilgten sogar seinen Namen.“
„Deswegen nennen sie ihn nur ES !“ brachte Vitras beinahe flüsternd hervor.
„Richtig!“ erklärte Mai weiter: „ ES wurde zunächst ins große Sanktrum verbannt, wo er sich zum Herrscher der Dämonenwelt aufschwang. Wir alle kennen die uralten Geschichten, der legendären Schlacht der Götter gegen die Heerscharen der Dämonen. Im Verlaufe dieser Schlacht wurde ES von Astorius, dem Gott des Lebens besiegt und seiner Kräfte beraubt. Anschließend stieß man ihn ins große Nichts.“
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