epubli GmbH - Feldforschung

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Was passiert, wenn ein Protagonist systematisch das Alltagsleben anderer durchdringt, sie beobachtet und dabei selbst Teil des großen Ganzen wird? An welche Orte, Kulturen oder Randgebiete verschlägt es ihn? Was erfährt er über das eigene Leben?
Zahlreiche Autoren haben sich Gedanken zu diesen Fragen im Rahmen unseres Schreibwettbewerbs gemacht und die Ergebnisse sind ebenso unterschiedlich wie kreativ. Reisen in fremde Länder und unter Wasser, die Flucht aus Kriegsgebieten, schicksalhafte Briefe die zu spät kommen oder Telefonate mit fremden Menschen. Diese und noch viele weitere Themen sind Gegenstand der Vielfalt an Kurzgeschichten.

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„Der Typ hat kein Handy. Nicht mal ein Telefon. Dann kannst du dir die Frage nach der E-mail-Adresse selbst beantworten.“

„Na gut, was muss ich machen?“

„Ach Gianni, du bist ein Schatz. Pass auf, ich erkläre dir, wo du hin musst. Es ist ein bisschen kompliziert.“

Eine Stunde später stellte Gianni seinen Fiat 500 auf dem Parkplatz vor der Anlage Gut Grün ab. Dem Namen nach also eher grün als braun, erwischte er sich beim Mitdenken. Interessierte ihn das wirklich? Er musste sich eingestehen, dass Franzi Schneiders Beschreibung des Vereins-Vorstandes tatsächlich sein Interesse geweckt hatte. Er hoffte, sie jetzt alle gemeinsam im Vereinsheim anzutreffen, es war elf Uhr, die Zeit ihrer täglichen Vorstands-Besprechung.

Hinter dem Tor zu der Gartenanlage sah man schon ein flaches Gebäude mit dem Kneipenschild: Gut-Grün , davor ein paar leere Tische mit zusammengeklappten Stühlen. Kein Mensch war zu sehen. Gianni ging zügig auf das Haus zu. Er hatte eigentlich das dringende Bedürfnis, seinen schwarzen Leder-Blouson auszuziehen, weil es so schwül war, aber er behielt ihn vorsichtshalber an. Anklopfen oder reingehen? Er atmete tief durch und drückte die schwere, verschnörkelte Klinke herunter, die so gar nicht zu der schlichten Tür mit dem in die Jahre gekommenen Eis-Plakat passte. Dann zog er beherzt an der Tür und stand sofort in einer dicken Wolke aus Zigarettenqualm, Alkohol-Ausdünstungen und irgendetwas Säuerlichem. Er prallte zurück – seine Jacke, das würde ewig dauern, bis die wieder normal roch!

„Tür zu!“, bölkte es von innen. Das konnte nur der Laute sein. Der Zeugwart des Vereins hatte auf dem Bau gearbeitet und brachte es ohne technische Hilfsmittel locker auf 120 Dezibel.

Ok, also rein. Gianni holte noch einmal Luft, trat dann ein und machte höflich die Tür hinter sich zu. Die erste Erkenntnis seiner kleinen, privaten Feldforschung war, dass Gärtner offensichtlich, zumindest zeitweise, ohne Sauerstoff auskommen.

„Guten Tag, ich suche den Garten von Klaus-Jürgen Muthke.“ Ein unscheinbares Bürschchen hob ruckartig das Kinn.

„Wat wollnse denn da?“ War das Feindseligkeit oder schlechtes Gewissen? Im selben Moment, so als habe er schon beim Sprechen bemerkt, dass er mal wieder Mist gebaut hatte, sah er schuldbewusst zu seinem Tischnachbarn auf, der sich in dem Moment leicht unsicher aber verdächtig schnell erhob. Er wurde dadurch nicht viel größer, aber es reichte, um eine Hand auf die Schulter des Vorlauten zu legen.

„Lass mal gut sein, Jupp“, sagte das Männchen jovial. Aha, das waren also Jupp, der langzeitarbeitslose Kassenwart des Vereins und Kalle sowieso, der erste Vorsitzende, Rentner und Kommunalpolitiker, der noch Brieftauben im Garten hatte, obwohl das schon lange verboten war. Er nannte das Tradition und Bestandsschutz. Das Kleingartengesetz war da eher nachgeordnet. Die Hand noch auf Jupps Schulter, wandte sich der kleine Vorsitzende an den zu seiner anderen Seite Sitzenden.

„Olli, schau doch bitte mal nach, welche Gartennummer der Herr ... Muthke hat.“ Dem Angesprochen fiel buchstäblich der Unterkiefer herunter. Er macht aber seinem Spitznamen der Leise alle Ehre und beschränkt sich darauf, sein Laptop aufzuklappen.

Was war das denn für eine Reaktion? So unzumutbar war die Bitte doch gar nicht. Gianni wusste von Franzi Schneider, dass dieser Oliver Vogel, der Schriftführer des Vereins, sich sowieso niemals von seinem Laptop trennte, da konnte er doch mal in eine Liste schauen. Er stellte sich jetzt allerdings sehr umständlich an, so als wisse er gar nicht, was gerade los ist. Auch auf den Gesichtern der drei anderen stand die pure Verblüffung. Als erstes erholte sich der, der bis jetzt noch gar nicht in Erscheinung getreten war, das musste Wolle sein, ein frühverrenteter

Bergmann: „Ich weiß, wo dem Klaus-Jürgen seine Parzelle ist, kommen Sie, junger Mann, ich bringe sie hin.“ Er stand auf und ging zur Tür. Gianni folgte ihm erleichtert. Er wollte hier raus. Endlich wieder Luft atmen. Außerdem fühlte er sich überfordert mit diesen komischen Deutschen und ihrem merkwürdigen Verhalten.

Sie hatten noch nicht den kleinen Platz vor dem Vereinsheim überquert, da wurden sie schon von den anderen eingeholt.

„Wir kommen mit“, brüllte der Laute. Wolle zuckte nur mit den Schultern und das kleine Rudel ging zügig weiter.

„Wir haben sowieso den gleichen Weg.“ Gianni sah aus dem Augenwinkel, wie Wolle kurz die Stirn runzelte und Kalle, der Vorsitzende, der fast rennen musste, um Schritt zu halten, mit Oliver, dem Laptop-Typen besorgte Blicke tauschte.

Der Garten von Klaus-Jürgen lag am Ende der Anlage. Dahinter erstreckte sich freies Feld nach Westen, nur eine alte Scheune verstellte den Blick auf die begrünte Halde am Horizont.

„Hier ist es aber schön“, log Gianni um eine Gelegenheit zu bekommen in Ruhe jedem Rudelmitglied ins Gesicht zu sehen.

„Na ja, ein gepflegter Garten sieht anders aus“, sagte Wolle, der wahrscheinlich genau wie Gianni sämtliche Missstände sofort erfasst hatte. „Aber das ist ja auch Geschmacksache.“ Die anderen schienen eher Augen für die alte Scheune zu haben.

„Ist das nicht merkwürdig?“, hörte Gianni sich sagen. „Man sieht immer zuerst auf das, was stört.“

„Wat? Wieso? Wat stört Sie denn?“, ließ sich Jupp, der halbstarke Kassenwart vernehmen. Wieder fing er sich einen strafenden Blick des ersten Vorsitzenden ein, der jetzt irgendwie ungeduldig wurde.

„Was ist jetzt, junger Mann? Können wir gehen? Sie sehen ja, dass Herr Muthke nicht da ist.“

„Ja, danke schön“, sagte Gianni mit seinem professionellsten Lächeln, das meistens auch bei Männern funktionierte.

Das Rudel trottete los. Komisch, dachte Gianni, die eskortieren mich hier richtig. Dabei hatten sie gesagt, dass sie nur die gleiche Richtung haben, jetzt laufen sie den Weg wieder mit zurück.

„Hier gefällt es mir“, small-talkte Gianni drauf los um die unangenehme Stimmung etwas aufzuheitern. „Was müsste ich denn machen, wenn ich auch so eine Parzelle haben wollte?“

„Na, ich würde sagen, erst einmal ein paar Arbeitseinheiten absolvieren um zu sehen, ob Ihnen auch die Arbeit im Garten gefällt.“ Wolle war der einzige, der nett und kommunikativ war.

„Ich komme aus einer Familie, die von der Landwirtschaft lebt...“

Fast hätte er angefangen, von dem Garten seiner Mutter los zu schwärmen, aber dann wären die Typen hier beleidigt gewesen.

„Darf man denn anbauen was man will?“, lenkte er also seine Gedanken in eine andere Richtung, von der er angenommen hatte, dass sie unverfänglich sei. Er wollte eigentlich dem Vorstand die Gelegenheit geben, seine Kenntnisse des Kleingartengesetzes zum Besten zu geben, aber die allgemeine Reaktion war verblüffend. Blitzschnelle Blicke wanderten von einem zum anderen, außer zu Wolle, der mit seinen langen Schritten vorweg marschierte und mit ausholender Geste zu reden ansetzte: „Ja, also...“

„Wir haben jetzt Mittag!“ grätschte Kalle dazwischen. „Wolle, deine Olle wartet.“ Der Angesprochene drehte sich um, sah auf das Grüppchen und dann auf die Uhr.

„Ja, hast recht, Tschüss, bis um drei.“ Weg war er.

Die anderen schoben Gianni regelrecht mit einer Wand von Misstrauen und Schnaps-Fahne zur Anlage hinaus.

„Woher kennen sie den Klaus-Jürgen eigent... aua!“ Jupp, der Fragesteller krümmte sich plötzlich und rieb sich den Fuß, der mit seinem Flip-Flop dem massiven Gartenstiefel des Lauten wenig entgegenzusetzen gehabt hatte.

„Ok, ich bin dann mal weg“, sagte Gianni so naiv wie er konnte, ging flott zu seinem Auto und fuhr los. An der nächsten Ecke hatte seine Idee Form angenommen. Das Feld mit der Scheune musste doch auch von einer anderen Seite zu erreichen sein. Er ließ also seinem Orientierungssinn freien Lauf und parkte dann am Fuße der Halde, die er vorhin von weitem gesehen hatte. Jetzt schaute er über das Feld zu den Gärten hinüber - absolute Mittagsruhe, niemand zu sehen. Geduckt rannte er auf die Scheune zu, die letzten Meter schlich er, dann lehnte er sich, über sich selbst amüsiert, an die Scheunenwand.

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