Der Gedanke daran, dass kleine Kinder tagsüber Schuhe putzen, statt ihre Kindheit zu genießen ist für sie genauso unbehaglich, wie Jake es mit seinen Worten beschreibt. Sie schüttelt ihren Kopf und blättert um.
Montag, 03.11.2014
Hatte heute ein Vorstellgespräch an einer der Schulen hier. Letzte Woche habe ich durch den Staatsanwalt erfahren, dass ich noch bis Weihnachten oder so in Bolivien untertauchen muss. Man löse den Fall zurzeit mit Hochdruck, allerdings stehen die besagten Geschäftsführer noch immer unter strenger Beobachtung. So lange dürfe man die Ermittlung nicht gefährden. Als ich dann gestern in der Jugendherberge mitbekam, dass die Schulen in La Paz händeringend Langzeittouristen suchen, die den Kindern für kleines Geld Englisch beibringen, stand für mich fest, dass ich meine ungewollte Lebenssituation in die Hand nehmen muss. Einzige Voraussetzung war, dass man Spanisch und Englisch können muss. Und dass man ab 18 Uhr Zeit hat.
Freitag, 28.11.2014
Heute hat der Unterricht wieder Spaß gemacht. Ich habe den Kindern einiges über Europas Geschichte erzählt. Pedro kam wie gewohnt zu spät. Ich habe ihn in der Pause beiseite genommen und gebeten, dass er früher losgehen soll. Er schaute mich daraufhin verschüchtert an und entschuldigte sich mehrfach dafür, dass er es zeitlich nicht schafft noch mehr als zwei Stunden für den Schulweg einzuplanen. Aber er werde sich zukünftig bemühen schneller zu gehen.
Ich war sprachlos. Mit dem Leihwagen brauche ich nur knapp 25 Minuten bis in die Stadt. Nach dem Unterricht habe ich Pedro angeboten ihn zu fahren. Er hat sich so gut er konnte dagegen gewährt. Aber ich habe mich nicht abwimmeln lassen. Der Junge tat mir so leid. Allein der Gedanke daran, dass er um 20 Uhr noch zwei ganze Stunden alleine von der Stadt bis rauf in die verwinkelten Wohnsiedlungen in den höher gelegenen Bergen laufen muss, ging mir einfach nicht in den Kopf. Wie wissbegierig muss ein Kind sein, um solche Anstrengungen auf sich zu nehmen? Auf der Rückfahrt war Pedro ganz still. Zwischendurch gab er mit einer Handbewegung an, wenn ich abbiegen sollte. Er sah auf dem Beifahrersitz des Jeeps klein aus. Seine blauen Spiderman-Turnschuhe mit den leuchtend roten Schnürsenkeln baumelten frei in der Luft vor dem Sitzpolster.
Mittwoch, 17.12.2014
Heute ist Minnies Geburtstag! Wie könnte ich das vergessen. Ich war neulich drauf und dran, ihr eine Postkarte von La Paz zu schicken. Einfach nur, damit sie weiß, dass es mir gut geht und dass ich sie noch immer über alles auf der Welt liebe. Aber der Staatsanwalt hat es mir mehrfach verboten. Jetzt habe ich schon so lange durchgehalten und möchte es nicht vermasseln. Meine Tage hier ziehen schnell vorbei. Tagsüber bin ich in der Stadt unterwegs und freu mich auf den Unterricht mit den Kindern. Mit Pedro habe ich vereinbart, dass ich ihn zwei Mal die Woche auf dem Weg zur Schule abholen komme. Anfang der Woche war ich früh dran. Die Straßen waren leer. Er stand noch nicht wie gewohnt vor der Haustür. Ich stieg aus um nach ihm zu sehen. In der Hütte, in der er mit seine Eltern und seinen drei kleinen Geschwistern lebt, liefen an den Wänden überall wirre Kabel entlang. Manche waren mit einer Schutzschicht ummantelt, andere nicht. Behutsam schaute ich mich um. Als ich eine Frau stark husten hörte, kam Pedro um die Ecke gesprungen. Er winkte mich zu sich, um mir sein Zimmer zu zeigen. Neugierig folgte ich ihm. Eine selbstgebaute Holzleiter führte von der Küche aus durch ein Loch in der Decke hinauf in Pedros Reich. Als ich fast oben war, stellte ich schnell fest, dass ich viel zu groß bin, um dort herumzulaufen. Pedro hingegen hopste direkt auf sein Bett und zeigte auf einen uralten winzigen Röhrenfernsehr auf dem Boden. Ich weiß gar nicht wie lange es her ist, dass ich so einen Fernseher gesehen habe. Sein Vater hat ihn für Pedro repariert, nachdem er ihn auf einem Schrottplatz gefunden hatte. Das Gerät war Pedros ganzer Stolz. Niemand seiner Freunde hatte einen eigenen Fernseher. Ich stand noch immer auf der Leiter und schaute mich weiter um. Mein Blick blieb an einem abgewetzten Holzkasten, einem Schwamm und schwarzer Cremepaste hängen. Pedro bemerkte es und schob alles schnell mit dem Fuß unter das Bett. Er wollte nicht darüber sprechen. Doch ich konnte es mir denken. Der arme Junge putzt vor der Schule Schuhe. Deshalb hat er auch keine Zeit früher loszulaufen.
In der Schulpause erfuhr ich von anderen Lehrern, dass Schuhputzer in Bolivien verachtet werden. Die Kinder vermummen sich beim Arbeiten und reden daher nie darüber, um nicht verspottet zu werden. Manche Kinder sind unter fünf Jahre alt, wenn sie anfangen, damit Geld für Nahrung zu verdienen.
Während die Uhr auf Zwei zugeht, unterbricht Minnie hellwach ihre Lesestunde und geht auf Toilette. Danach murmelt sie sich wieder in die Bettdecke ein und liest weiter.
Donnerstag, 08. Januar 2015
Gestern war ich wieder in der Stadt einen Tortilla-Fladen essen. Dabei beobachtete ich am Straßenrand wieder eines der Schuhputzkinder. Es trug blaue Spiderman-Turnschuhe mit leuchtend roten Schnürsenkeln. Es war Pedro! Er war gerade dabei, einem älteren Herrn schwarze Lederschuhe aufzupolieren. Jeder Handgriff saß perfekt. Man sah ihm an, dass er das schon über Jahre machte. Als er fertig war, nahm er umgerechnet 20 Cent entgegen, klappte die Trittstufe samt Putzmaterial zusammen und ließ alles wie ein Magier in einer Tüte verschwinden. Auch seinen Umhang. Nun sah er wieder aus, wie der kleine Junge von nebenan. Ich folgte ihm unauffällig. Er lief die Straße hinunter und kaufte sich von seinem Geld ein einfaches Brötchen mit Avocado. Das Günstigste, was man an der Straße kaufen kann. Als ich ihn abends in der Schule darauf ansprechen wollte, kam er nicht zum Unterricht. Heute erfuhr ich über einen Klassenkameraden, dass Pedros Mutter verstorben ist. Er kann die nächste Zeit nicht mehr zur Schule kommen und muss sich um seine kleinen Geschwister kümmern, während sein Vater weiter Geld verdienen muss.
Montag, 10.02.2015
Liebes Tagebuch, es ist nicht zu glauben, aber ich sitze immer noch in Bolivien fest. Ich weiß nicht warum, aber in letzter Zeit mache ich mir viele Gedanken darüber, ob Minnie noch auf mich wartet. Warum soll sie auf jemanden warten, von dem sie denkt, dass er sie aus Mangel an Liebe verlassen hat? Das ergibt alles keinen Sinn.
Ich habe mich hier gut integriert. Mein Zimmer fühlt sich fast wie ein richtiges Zuhause an. Manchmal träume ich sogar in Spanisch! Der Unterricht an der Schule erfüllt mich sehr. Mehr als die Leitung der Vertragsabteilung in meinem alten Leben. Gott, was habe ich meinen Job damals geliebt. Heute sehe ich die Welt mit anderen Augen. Mitzuerleben, wie Kinder von einem besseren Leben mit einem richtigen Job träumen, ist ein unbeschreiblich gutes Gefühl. Ich bin ein Teil von ihrem Werdegang geworden und fühle mich mitverantwortlich. Ich möchte den Kindern in La Paz helfen! All‘ den kleinen Pedros die es verdient haben am Unterricht teilzunehmen, statt in so jungen Jahren so viel Verantwortung für die Familie übernehmen zu müssen. Wenn die Sache mit der Staatsanwaltschaft überstanden ist, schicke ich Minnie dieses Tagebuch zu. Sie soll mit eigenen Augen lesen, wie sehr mich das Leben hier verändert hat. Erst dann wird sie verstehen, warum ich hier leben möchte, obwohl ich sie liebe und nie vor gehabt hatte, sie zu verlassen.
Tränen rollen Minnies Wangen hinab. Sie schaut auf den Kalender über dem Bett. Dieser Tagebucheintrag ist nun gute zehn Monate alt. Eine verspätete Antwort auf ihre damaligen Fragen. Jake war der eine Mann, den sie heiraten wollte. Bis er von heute auf morgen verschwand und ihr das Herz brach. Jetzt zu lesen, dass genau das nie seine Absicht war, versetzt ihr einen tiefen Stich. Gleichzeitig ist sie erleichtert. Mit zitternden und Händen blättert sie den letzten Tagebucheintrag auf.
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