„Meine Tante ruft mich. Sie will mich davon abhalten, mich dem Lichtbaum zu nähern. Sie meint, das bringe mir Unglück. Aber ich glaube ihr nicht. Sie ist etwas verstaubt, etwas zopfig, wenn du weißt, was ich meine. Sie liegt mir immerzu auf den Schuppen. Sie kann ruhig noch ein bisschen auf mich warten. Das ist sie gewohnt. Wenn sie wüsste, dass ich gerade einem Luftmenschen begegnet bin, wäre sie schrecklich aufgeregt. Ich erzähle es besser niemandem.“
Die kleine Meerjungfrau kehrte mit viel Schwung zu ihrem Platz auf dem Felsbrocken zurück, setzte sich zurecht und schlang ihren rechten Arm um einen schleimigen Ast, der sich in der Strömung über dem Stein hin und her bewegte.
„Das mit den Beinen weiß ich von meiner Großmutter. Sie weiß sehr viel. Ich mag sie sehr. Ich wohne bei ihr, seit meine Eltern von einem großen Raubfisch verschlungen wurden. Ich kann mich kaum an meine Eltern erinnern. Na, wen interessiert das wohl heute! – Also, meine Großmutter und meine Tante und ich wohnen in einer Algenhütte, nicht weit von hier. Von meiner Großmutter weiß ich, dass es Luftmenschen gibt, die mehr gehen als schwimmen, eben weil sie statt einer Schwanzflosse zwei Beine haben. Sonst sind sie uns recht ähnlich, wie ich jetzt mit eigenen Augen sehe. Von wo die Luftmenschen in die obersten Äste des Lichtbaumes gekommen sind, habe ich noch nicht herausgefunden. Meine Großmutter will mir nicht alles erzählen, was sie weiß. Nicht, bevor ich etwas älter geworden bin, sagt sie. Aber sie hat doch erzählt, dass eine Jugendfreundin von ihr auf abenteuerliche Weise durch den Stamm des Lichtbaumes ganz nach oben schwamm – und nie mehr zurückkehrte. Weißt du vielleicht etwas davon?“
Erwartungsvoll schaute sie mich an.
Ich wurde wieder etwas verlegen, denn ich kannte die Geschichte recht gut, hatte aber immer geglaubt, es sei eine reine Märchengeschichte. Wie sollte ich ihr den Unterschied zwischen Märchen und Wahrheit erklären, wenn er mir vielleicht selber noch nicht so richtig bewusst sei. Vielleicht seien Märchen und Wahrheit ja viel mehr miteinander verbunden, als ich es bisher geglaubt hatte. Sonst säße ich wohl nicht hier auf dem Meeresgrund meiner Seele, – im Gespräch mit einer kleinen Meerjungfrau.
Ihre fragenden Augen hingen immer noch an meinen Lippen. Ich fasste mir ein Herz und entschied mich für die Diplomatie:
„Deine Großmutter ist eine kluge Frau. Ich bin sicher, dass sie dir die ganze Geschichte erzählen wird, wenn du einige Jahre älter geworden bist. Aber sag mal, bist auch du irgendwann mal annähernd nach oben geschwommen?“
Die kleine Meerjungfrau freute sich, ihr Wissen und ihre Erfahrungen unter Beweis zu stellen:
„Nein, das hat bisher nicht geklappt. Irgendeine Kraft hält uns Wassermenschen hier unten fest. Aber im Lichtbaum ist die festhaltende Kraft nicht so stark. Dort scheint es eine Gegenkraft zu geben. So bin ich einige Male ein gutes Stück aufwärts geschwommen. Das ist wunderschön. Nur, die Sache hat einen Haken! Je weiter ich nach oben gelange, desto schwindliger wird mir. Zuletzt muss ich die Augen schließen und mir wird schlecht. Ich muss dann umkehren. Aber ich habe herausgefunden, dass ich durch Übung immer höher steigen kann. Deshalb unternehme ich dann und wann einen heimlichen Aufstieg. –Wenn da bloß nicht meine Tante wäre!“
Sie seufzte tief. Ich sah ihr an, dass hinter ihrer jugendlichen Neugier und Abenteuerlust tiefe Sehnsüchte waren, Sehnsüchte danach, eine andere und höhere Welt als ihre eigene kennen zu lernen.
„Woher weiß deine Großmutter von den Luftmenschen? Sie ist ja sicherlich auch nicht ganz oben gewesen, wo wir wohnen?“
„Nein, das ist sie nicht. Aber sie hat es versucht, als sie jung war. Es war wie bei mir. Es ging einfach nicht. Und dann ließ sie es sein, weil sie sich nicht in Gefahr bringen wollte. Eigentlich glaube ich nicht, dass ich es wirklich schaffe. Aber das Probieren macht Spaß. Meine Großmutter hat mir geraten, immer auf meine innere Stimme zu hören und rechtzeitig umzukehren, wenn die Stimme mich warnt. Meine Großmutter weiß viel von den Luftmenschen. Denn sie hat freundschaftliche Verbindung zu unserem Herrscher, dem Meeresfürsten, der nicht sehr weit von hier in einem Wasserschloss wohnt. Sie ist völlig hin, wenn sie von ihm erzählt. Vielleicht willst du sein Schloss mal sehen? Ich könnte es dir zeigen.“
Ich war sehr beeindruckt. Schon wieder ein Herrscher, diesmal konkret sowie greifbar nahe, wie mir schien. Trotzdem wehrte ich ab:
„Ich kann mich nicht sehr weit vom Lichtbaum entfernen. Wenn ich es versuche, zieht irgendetwas mich weg von mir selbst und macht mich schwach. Auch ich muss auf meine innere Stimme hören.“
Die kleine Meerjungfrau sah aus, als ob sie intensiv nachdachte. So war es auch. Sie hatte einen Einfall:
„Ich weiß was! – Wir schwimmen zusammen ein Stückchen aufwärts im Lichtbaum. An einer bestimmten Stelle müssen wir aus dem Licht heraus schwimmen. An einer nahe gelegenen Felswand in kurzem Abstand vom Lichtbaum müssen wir dann in eine dunkle Grotte hinein schwimmen. Am anderen Ende der Grotte befindet sich ein Ausgang. Dort gelangen wir wieder hinaus ins Freie. Es ist total ungefährlich. Viele kleine Fische benutzen die Passage, um einen großen Umweg zu vermeiden. Sie markieren mit ihren selbstleuchtenden Körpern eine Lichtspur, der wir vertrauensvoll folgen können. Auf der anderen Seite der Passage sieht man das Schloss des Meeresfürsten von oben, in all seiner Pracht. Das solltest du dir nicht entgehen lassen.“
Da es ohnehin Zeit war für meine Rückkehr, und ihr spontaner Einfall mir überdies sehr behagte, willigte ich bedenkenlos ein. Die kleine Meerjungfrau strahlte vor Freude und war sofort an meiner Seite, fasste mich an der Hand und zog mich mit sich hinein in den Lichtschacht. Eine wunderbare Empfindung geheimnisvoller Zusammengehörigkeit durchströmte mich bei dieser ersten Berührung. Dann stiegen wir Hand in Hand aufwärts, während zahlreiche Elementarwesen uns vertraulich umschwärmten.
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