»Also doch Bedenken, mein Herz?« Joshua küsste sie auf die Stirn.
Mary-Ann beugte sich zu ihm hin und küsste ihn erneut, diesmal intensiver. Es funkelte in ihren Augen. »Realistisch. Das bin ich. Wir brauchen keine Panikmache, aber wir sollten nicht zu leichtgläubig sein. Und ... wir haben beschränkte Kapazitäten. Ich weiß, dass Edward der Meinung ist, wir könnten noch andere Flüchtlinge aufnehmen. Aber - wo ist die Grenze? Wann sagen wir nein?«
Er nickte und dachte daran, wie schnell er und Mary-Ann zueinandergefunden hatten, hier auf der Insel. Seit Jahren hatte er für sie geschwärmt. Sie war seine Chefin gewesen, er der etwas lethargische Journalist, der sein Potenzial niemals richtig auszuschöpfen wusste. Nie war etwas zwischen ihnen passiert, nicht auf den Empfängen, nicht bei den Galas - oder sonst wo. . Am ersten Abend ihrer Ankunft, als sie beide am Seeufer standen, hatten sie sich ausgesprochen. Es war ein warmer Sommertag, der mit einem traumhaften Sonnenuntergang in irren pink- und mauvefarbenen Tönen zu Ende ging. Grillen zirpten, der Mond stand am Himmel - und sie dicht beieinander am Ufer. Der Rest war das, was man Geschichte nennt. Joshua erinnerte sich noch genau an den Moment, als sie sich umarmten. Es war dieses unglaubliche Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Alleine in einer Welt, die langsam ihrem Ende zuging. Es machte keinen Sinn, etwas beschönigen zu wollen. Falls das Internet doch wieder einmal funktionierte, trafen nur Hiobsbotschaften ein. Die großen Städte verfielen, waren lebensfeindliche Zonen geworden, in denen die Zombies herrschten. Doch die Zombies blieben nicht in den Städten. Irgendwann begaben sie sich auf die Wanderschaft, gerade so, als würde sie das Fleisch der Lebenden locken.
Aber noch leben wir, dachte er. Die Wolkendecke riss auf und gab die Sonne frei. Joshua blinzelte und wischte sich kurz über die Augen.
»Können wir heute wieder spazieren gehen?«, rief Leo, Candys Sohn.
Mary-Ann lächelte zuerst ihn, dann Joshua an. »Nehmen wir die beiden mit?«
»Ausnahmsweise«, erwiderte Joshua. »Leo, Janet - packt eure Rucksäcke. Wir machen nachher ein kleines Picknick am westlichen Ufer.«
»Können wir zu einer der anderen Inseln übersetzen oder ans Festlandufer?«, fragte Leo.
Mary-Ann schüttelte den Kopf. Sie wirkte übergangslos ernst. »Nein, Leo. Ihr kennt die Spielregeln. Vorläufig bleiben wir für uns.«
Leo wollte murren, doch seine Schwester stieß ihn kumpelhaft in die Seite. »Motz nicht. Hier ist es schön. Außerdem könnten am Ufer Zombies sein. Die mag ich nicht. Die sind gruselig.«
»Okay.« Leo verzog das Gesicht. Dann liefen die beiden in die Hütte, um ihre Rucksäcke zu packen.
Mary-Ann griff nach Joshuas Hand. »Gehen wir. Wenn wir nicht rechtzeitig fertig sind, geht das Murren der beiden wieder los. Du weißt doch,wie ungeduldig Kinder sein können.«
Joshua nickte und wollte sich in Bewegung setzen. Aus den Augenwinkeln heraus war ihm, als hätte er einen Reflex wahrgenommen, fast so, als bräche sich das Sonnenlicht in der Linse eines Feldstechers. Er wandte sich um, doch da war nichts mehr. Na ja, vielleicht beobachtet man uns von dort drüben, kam es ihm in den Sinn. Es wurde langsam Zeit, wieder an Wachen zu denken. Sie waren zu sorglos. Ja, dachte er. Das Inselleben lullte sie langsam ein. Es war eine trügerische Sicherheit. Irgendwie ahnte er mehr, als dass er es wusste, dass es früher oder später mit dieser Ruhe vorbei sein würde. Hoffentlich später ...
Kasachstan
In der Steppe, ca. 150 km von Scheskasgan entfernt
»Wir nähern uns dem Zielgebiet«, sagte Jessica Warden mehr zu sich selbst. Ihre rechte Hand hielt den Joystick umklammert, obwohl nach wie vor der Autopilot den Tarnkappenjet steuerte. Cleveland war zusätzlich über Satellit mit den Bordcomputern verbunden. Es machte Jessica nervös, zum Nichtstun verdammt zu sein. Zu gerne hätte sie diesen neuen Vogel einmal selbst geflogen bzw. gelandet, doch sie durfte nicht.
Otis verzog das Gesicht. Jessica wusste, dass er das Fliegen nicht unbedingt mochte, es nach eigener Aussage sogar hasste. Trotzdem hatte er sofort zugesagt, als General Lee H. Parker von Cleveland Air Force Base Nova sie und Otis in den neuen Auftrag eingeweiht hatte. Es gab in Cleveland Nova für Agenten zu wenig zu tun. Und das Herumsitzen zerrte an den Nerven. Otis und Jessica hatten etliche Stunden im Fitnesscenter und mit Schießübungen zugebracht: Bogenschießen, der Kampf Mann gegen Mann und was es sonst noch gab.
Otis sah auf die verschiedenen Displays. Das Landegebiet wirkte karg, menschenfeindlich. In der Ferne erhob sich das Ulutau-Gebirge, dessen Ausläufer im Dunst lediglich zu erahnen waren.
»Ich sehe keine Landebahn, wo wir heruntergehen können«, sagte Otis. Seine Stimme klang etwas beunruhigt. Er wusste zwar, dass der Jet senkrecht landen und starten konnte, doch der Acker dort unten verursachte bei ihm ein ungutes Gefühl.
»Brauchen wir nicht. Die Kiste kann senkrecht starten und landen. Das war kein Scherz, als der General im Briefing ausdrücklich darauf hingewiesen hat. Der Boden darf nur nicht zu uneben sein, damit der Jet nicht in Schräglage gerät, aber die hydraulischen Dämpfer können auch in einem solchen Falle einiges wegstecken.«
Otis winkte ab. Er wusste, wie fasziniert Jessica von all diesen technischen Dingen war, die ihn nur am Rande interessierten, wenn überhaupt. Es beruhigte ihn halbwegs, dass er Jessicas Hand am Steuerknüppel sah. Sollte der Knilch von Autopilot Mist bauen oder der Satellit ausfallen, über den der zusätzliche Leitstrahl von Cleveland kam, konnte sie immer noch rechtzeitig manuell eingreifen. Zumindest hoffte er das.
»Sind die Sojuskapseln schon unten?«, fragte Otis.
»Nein. Sie dürften frühestens in einer halben Stunde niedergehen. Aus Sicherheitsgründen werden sie einige Kilometer voneinander entfernt landen. Wir packen die ersten Wissenschaftler in den Jet, versorgen sie medizinisch und starten dann zum nächsten Landepunkt.«
»Wenn alles glattgeht«, bemerkte Otis.
Jessica sah ihn ironisch an. »Eh, Alter, was ist denn Los? Muffensausen? So pessimistisch kenne ich dich ja gar nicht.«
»Nur so ein blödes Gefühl. Das ging einfach alles zu glatt. Der Flug über den Atlantik, das Eindringen in den Bereich der Russischen Föderation. Ich weiß nicht ...«
Mehrere LEDs erwachten zum Leben. Irgendwo in den Instrumenten klickte es.
» Remote Control leitet den Landevorgang ein «, kommentierte Jessica, deren Augen konzentriert die Kontrollen überflogen. Ihr Gesicht wirkte angespannt. Sie strich sich eine Strähne hinter das rechte Ohr und leckte sich über die Lippen. Mittlerweile trug sie das blonde Haar sehr viel kürzer. Es ließ sie jünger aussehen.
Otis inspizierte seine Montur. Ein routinemäßiger Vorgang, der ihm gar nicht bewusst war. Er trug eine Schnellfeuerwaffe und ein schweres Kampfmesser sowie einen kurzen Stichel mit gummiertem Griff, der hervorragend dazu geeignet war, etwaigen Untoten das Licht auszublasen.
Die Geräusche im Jet veränderten sich. Es klang, als liefen Turbinen an. Die Zelle vibrierte, und der Jet verzögerte, blieb schließlich fast auf der Stelle stehen und senkte sich dem kargen Boden entgegen. Kurz darauf lief ein schwacher Ruck durch die Maschine. Das Rauschen der Turbinen ebbte ab. Die entstandene Stille im Cockpit wirkte plötzlich unwirklich laut.
»Unten, sogar lebend«, sagte Jessica mit einem verschmitzten Lächeln.
Otis nickte nur. Das Lachen war ihm vergangen. Er wollte es nur ungern zugeben, doch das Fliegen setzte ihm mehr zu, als er es sich selbst eingestehen wollte. Vielleicht lag es auch an der Enge im vorderen Bereich des Cockpits. Im hinteren Teil hatte man sechs Liegen installiert, auf denen die Astronauten die Reise nach Hause antreten sollten. Es waren modernste hydropneumatische Liegen, die für das Wohlbefinden der Passagiere sorgen würden. Die lange Verweildauer in der Schwerelosigkeit dürfte den Männern und Frauen arg zugesetzt haben.
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