Als ich aufwachte, schien vor meinem Fenster die Sonne und als ich nach unten kam, fand ich das Haus leer vor, deshalb machte ich mich ohne Frühstück auf den Weg zum Kummersee. Die Kronen der dicht ans Wasser gedrängten Laubbäume, spiegelten sich auf der Wasseroberfläche und an der Stelle, an der am Vortag der Wasserdampf aufgestiegen war, weckte nun etwas anderes mein Interesse. Das Wasser war überall mehr oder weniger dunkelgrün, in der Mitte aber war es tiefschwarz.
Ich zog mich aus und schwamm geradewegs darauf zu. In der Seemitte angekommen, holte ich Luft und tauchte. Unter mir schimmerte es hell und ich entdeckte eine algenbewachsene Mauer, schwamm durch eine Öffnung und befand mich in einem Tunnel. Dann wurde es heller über mir und ich tauchte auf. Ich rang nach Luft und schwamm zu einem Mauervorsprung, zog mich daran hoch und lehnte mich erschöpft an eine Wand. Die Luft war grün und das Wasser leuchtete. Über mir wölbte sich eine steinerne Kuppel, in deren Mitte sich eine runde Lichtquelle befand. Sonnenlicht fiel ein und hüllte die Szene in milchiges Dämmerlicht. Ich war wie berauscht von meiner Entdeckung, bis ich plötzlich Angst bekam.
Ich hetzte nach Hause, als wären Hunde hinter mir her. Als ich ankam, fehlte mir die Kraft, mein Rad abzuschließen. Meine Hände zitterten. Schwindelig legte ich mich aufs Bett und zog die Decke über den Kopf. Marta legte sich an meinen Bauch. So lagen wir noch, als ich mitten in der Nacht aufwachte.
Viermal war ich zum Luftholen in die Kuppel zurückgekehrt, bis ich mich für den richtigen Weg entschieden hatte. Zählen hatte mir geholfen, die Angst zu kontrollieren. Ich zählte die Schwimmzüge zurück an die Oberfläche, die Atemzüge bis ans Ufer, die Schritte bis zu meinem Rad. Erst war es nur ein Gedanke gewesen. Was, wenn ich hier nicht wieder herausfinde? Dann hatte ich zu frieren begonnen und die Angst hatte sich in mir ausgebreitet, um mich zu lähmen, bis ich wehrlos auf den Grund sinken würde.
An Schlafen war nicht mehr zu denken. Als ich aufstand, schlich Marta auf meinen Schreibtischstuhl, um dort weiterzuschlafen. Zwei Wände im Arbeitszimmer meiner Mutter waren vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt und vor den Regalen stapelten sich Neuanschaffungen. Sie unterliege dem Zwang, zu jedem Thema das richtige Buch im Schrank haben zu müssen, meinte mein Vater. Es gab Bücher zu allen möglichen Themen, Weltliteratur in verschiedenen Sprachen, Medizin und Naturheilkunde, Philosophie, Literaturgeschichte. Große Bücher und Bildbände standen in den unteren Fächern. Auf Knien rutschte ich vorbei an Kunstbänden und Atlanten. Architektur war ein Steckenpferd meiner Mutter, eines von vielen. Das Lexikon der Weltarchitektur hatte ich schon mit fünf Jahren gekannt. Meine Mutter hatte ihre Gutenachtgeschichten mit Bildern von Schlössern und Burgen ausgeschmückt und obwohl die Fotos klein und nicht einmal farbig waren, hatten sie mir märchenhafte Träume beschert. In dieser Nacht forderte das Buch die Träume zurück.
Zunächst blätterte ich es von vorne bis hinten durch. Kuppelbauten gab es jede Menge, bei den Römern und in Byzanz. Es gab Kuppelkirchen und Kuppelgräber, Scheinkuppeln und Kuppelmoscheen. Um sechs Uhr setzte ich mich an meinen Schreibtisch und begann zu skizzieren, was ich im Kummersee gesehen hatte.
„Was ist die Kleine bloß wieder blass.“
Sie sprachen über mich, als wäre ich nicht da.
Ich war übernächtigt und hatte Schwierigkeiten, meine Augen offenzuhalten. Der Pfefferminztee verstärkte noch das Gefühl, krank zu sein. Meine Mutter stieß mir ihren Ellenbogen in die Rippen und ich fragte Tante Rose artig, ob es in der Nähe ein historisches Gebäude gäbe, dass es Wert sei, besichtigt zu werden.
Gespräche mit Tante Rose verliefen immer gleich. Ich wusste genau, womit ich sie locken konnte. An diesem Tag war es jedoch ein hartes Stück Arbeit. Sie erzählte von ihren Schülern -sie war Grundschullehrerin gewesen, zu einer Zeit, als die Kinder noch nett waren-, den fabelhaften Ausflügen in die Natur und vergaß sich bei der Beschreibung des Freilichtmuseums. Zwei Tassen Pfefferminztee später, kam sie endlich auf den Punkt.
„Es hat einmal ein Schlösschen gegeben, aber soweit ich weiß, wurde es zerstört.“
Den restlichen Nachmittag enthielt ich mich der Unterhaltung. Tante Rose beklagte sich über ihre diversen Krankheiten. Der Rücken brächte sie noch um und nach dem Essen sei ihr eigentlich immer schlecht. Beinahe jeden Tag verbrächte sie im Wartezimmer irgendeines Spezialisten, aber helfen könne ihr niemand. Sie beklagte sich über ihre Nachbarn, über die ausländischen Familien in ihrem Wohnblock und den Rest der Welt. Meine Mutter lenkte beschwichtigend ein, zeigte Mitleid für die arme Tante, ergriff Partei für die Ärzteschaft und nahm die ausländischen Mitbürger in Schutz, die hätten ihre Heimat schließlich nicht verlassen, weil es in Deutschland befestigte Wege gab.
Ich blätterte in diversen Illustrierten und als wir endlich wieder zu Hause waren, ging ich direkt in mein Zimmer. Als ich mich ins Bett gelegt hatte, steckte mein Vater den Kopf durch die Tür und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei.
„Ich bin müde“, sagte ich.
Das war nicht gelogen.
Er kam ins Zimmer und setzte sich auf mein Bett. Ich konnte sehen, dass er sich Sorgen machte, aber ich war nicht in Plauderstimmung.
Als er schon wieder an der Tür stand, drehte er sich um und sagte:
„Deine Mutter und ich würden dir gerne einen Wunsch erfüllen, weil wir wieder nicht in den Urlaub gefahren sind, wenn dir etwas einfällt, lass es uns wissen.“
„Einen Tauchkurs“, platzte ich heraus.
„Habe ich richtig gehört, wie kommst du denn darauf?“
Ich blieb die Antwort schuldig und machte das Licht aus.
„Tauchkurs?“, hörte ich ihn noch murmeln, als er die Tür hinter sich zuzog.
Ich lag hellwach im Bett und konnte an nichts anderes denken, als an meine Entdeckung. Mein neues Wissen erfüllte jede Stunde des Tages und ließ alles andere klein erscheinen. Die Angst war verflogen, aber der Zauber, dem ich in der Kuppel erlegen war, war geblieben und mehr noch, er hatte mein ganzes Leben verändert. Ich war getrieben von dem Wunsch, mehr über das versunkene Gebäude herauszufinden, kramte mein Tagebuch unter dem Bett hervor und schrieb auf, was passiert war.
Wenn die Schulglocke klingelte, traf mich das Geräusch in die Magengrube. Es war ein erschütternder Krach, der einem das Blut in den Adern stocken ließ. Ich hatte schon viele Pausensignale kennengelernt, einen vornehmen Gong, einen Tusch, eine römische Fanfare. Die Glocke an dieser Schule war ein Folterinstrument. In langen Reihen standen Gefangene in zerrissenen Kitteln, mit schweren Ketten an den Füßen, für ein kärgliches Mahl an, um auf ein geheimes Kommando ihre Blechnäpfe auf den Steinboden zu schmeißen, dass es nur so schepperte.
Die Geschichtsstunde war zu Ende. Ich wartete, bis alle hinausgegangen waren.
„Fräulein Bach, bitte?“
„Herr Dr. Balser, ich…, hätten Sie einen kleinen Moment Zeit für mich, bitte?“, stotterte ich.
„Ein Moment beschreibt ein kurzes Zeitintervall und wollen Sie mich etwas fragen oder um etwas bitten?“
Beim Anblick seines gespannten Körpers versagte mir die Stimme. Ich konnte sehen, wie sich seine Ungeduld angesichts meines Zögerns steigerte. Das Blut stieg in seinen Adern auf und färbte sein gebräuntes Gesicht dunkelrot.
„Gibt es in unserer Stadt ein Schloss oder eine Burg?“, fragte ich schließlich.
Er schien erleichtert über meine Frage, lächelte schmallippig, senkte den Blick und packte seine Sachen ein.
„Fräulein Bach“, begann er erneut, „mir kommt da ein ganz wunderbarer Gedanke. In der nächsten Unterrichtsstunde werde ich mit Ihnen und Ihren Klassenkameraden einen Ausflug unternehmen, passend zum Unterrichtsstoff“, sprach er und ließ mich stehen.
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