Überrascht antwortete mein Mann: "Nein, wie kommst du denn auf diese Idee?"
Ich meinte, dass es halt sehr verdächtig sei, wenn seit so langer Zeit kein Zeichen menschlichen Lebens erschien. Mein Mann meinte beruhigend, dass das natürlich nicht sein könnte, da wir uns ja auf dem Weg in das Apachenreservat befanden, ins Skigebiet eben. Eine Erinnerung flammte in meinem Gedächtnis auf. Das Australiensyndrom , dachte ich. Wiederum fühlte ich mich unbequem in weiter, endloser Landschaft — obwohl ich sie nicht sehen konnte. Ein interessanter Austausch über unsere Plätze der Kindheit erfolgte. Diesmal war es nicht kultureller Unterschied, der sich manifestierte sondern geografischer! Mein Mann erzählte, wie er sich in Europa beengt gefühlt hatte, ob der dichten Besiedelung dort. Genau diese einsamen Weiten, ohne Lichter sozusagen, hätte er vermisst. Für mich war genau das Gegenteil der Fall. Lachend beschlossen wir, dass wir trotz unserer unterschiedlichen Reaktionen auf Landschaft gut zusammenleben konnten. In späteren Jahren, wenn wir durch westliche oder mittelwestliche Staaten fuhren, wie Nevada, Kansas oder Oklahoma, zitierten wir, angesichts der nahezu leeren, endlosen Autobahnen, den deutschen Straßenverkehrsbericht des Bayerischen Rundfunks: "Dichter Verkehr in beide Richtungen, drei Autos in nördliche Richtung fahrend, zehn Kilometer vor uns wird ein weiteres Vehikel gesichtet, hinter uns erscheint am Horizont ein Lastwagen. Bitte vorsichtig fahren!"
Am nächsten Tag in der Frühe standen wir auf den berühmten zwei Brettern am Lift, kurz nachdem er eingeschaltet worden war. Vom Gipfel aus konnte ich flaches, weites, weißes Land bis zum Horizont sehen. Es war wunderschön, wie konnte ich mich davon in der Nacht zuvor nervös machen lassen! Die Berge schienen angesichts des Flachlandes nicht sehr hoch zu sein. Überraschenderweise fühlte ich mich nach zwei Abfahrten so ausgepumpt, als ob ich zehn gefahren wäre. Meine Knie zitterten. Als mein Mann sich zu mir gesellte, gestand ich ihm, dass meine heutige Kondition beschämend schlecht wäre.
"Well, du fühlst die Höhe und den Sauerstoffmangel", erklärte er.
"Den Sauerstoffmangel? Diese Berge können nicht höher als 2.000 Meter sein!", rief ich.
Nachdem ich mich vorher nicht weiter über das Skigebiet informiert hatte, musste ich wiederum feststellen, dass ich automatisch alpine Verhältnisse angewandt hatte, wo im Allgemeinen die Skigebiete 2.000 Höhenmeter niedriger lagen als hier.
"Du fährst hier auf über 3.000 Metern", schätzte mein Mann.
Am nächsten Tag fühlte ich Schmerzen in meinem Brustkasten, wenn ich auch nur Treppen hochstieg. Vielleicht hatte sich mein Mann ja verschätzt und ich bin eigentlich auf 5.000 Metern gefahren. Aber ein späterer Blick auf die Landkarte bestätigte ihn. Schon das Flachland lag auf 2.000 Metern Höhe.
Was meinen Wissensdurst über indianisches Leben anbetraf, konnte ich ein weiteres Kapitel dazuschreiben. Es war ein zeitgenössisches Bild. Diese Apachen betrieben ihr Skigebiet effizient aber mit wenig Wärme dem Gast gegenüber. Verschlossenen Gesichtern stand ich gegenüber, ob ich einen Tee bestellte oder nach der Toilette fragte. Kein Lächeln und kaum Blickkontakt. Aber ihr Land war sehr schön.
Eines Tages, allen gegenteiligen Vorhersagen zu Trotz, kam doch der lebensspendende Regen über das ausgetrocknete Land. Da es so unerwartet geschah, kam ich an jenem Tag mit ziemlich feuchtem Haar und nassen Kleidern zu meiner Vorlesung. Ich wurde bewundert, als ob ich eine Gefahr überstanden hätte. Einige Studenten bedauerten mich wegen meines schwierigen Lebens mit dem Fahrrad. Eine junge Frau, geboren und aufgewachsen im Valley of the Sun , bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Das Fahrrad, schlug sie vor, sollte ich einfach auf dem Campus lassen. Niemand würde es stehlen. Am nächsten Tag würde sie mich wieder mit zum College nehmen. Eigentlich, meinte sie, sollte niemand mit dem Fahrrad unterwegs sein müssen, weder bei Regen noch bei Sonnenschein.
"Schau", sagte sie, "von jetzt ab hole ich dich immer ab. Ich muss sowieso an deinem Wohnkomplex vorbeifahren."
Ein großzügiges Angebot, fand ich, und nahm dankbar an. Daraus entstand eine wunderbare Freundschaft, die heute, nach 33 Jahren und durch alle Trennungen über Meere und Kontinente hinweg, noch anhält. Ich hatte Glück, dass sie ein Psychologiesemester belegte. Sie war eine Berufswechslerin. Ihre offene, wissbegierige Art und ihr großes Interesse an der Welt harmonierten mit meinem Lebensstil und meiner Denkweise. Meine ausländische Fremdartigkeit machte sie nicht misstrauisch, wie viele andere, sondern neugierig. Ihre Freundschaft hat natürlich meiner Anpassung ebenfalls sehr auf die Sprünge geholfen.
Ich hatte eigentlich erwartet, dass andere Studenten, ähnlich wie sie, aufgeklärt und anspruchsvoll wären. Damit aber demonstrierte ich Naivität. Bis heute kann ich noch mein Erstaunen spüren, das ich empfand, als mich eine Studentin mal fragte, wie ich denn nun meine Freiheit genießen würde. Ich verstand ihre Frage nicht. Nach einigem Nachhacken meinerseits wurde mir klar, dass sie nichts über die Teilung Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg wusste. Als ich erklärte, dass ich aus Westdeutschland, dem demokratisch-kapitalistischen Teil, käme, glaubte sie mir nicht. Am nächsten Tag aber suchte sie mich auf, um zu bestätigen, dass ich doch recht hatte mit den unterschiedlichen Staatsformen in Deutschland. Sie hatte jemand gefragt, nachdem sie, wie sie sagte, nicht glauben konnte, dass sie das nicht wusste. Ich habe sie ob ihres Mutes zu so viel Ehrlichkeit bewundert.
Ein weiteres Mal war die Ungläubigkeit ganz meinerseits, als mir eine andere Studentin mitteilte, dass sie noch nie von der Deutschen Mark gehört hatte. Bislang hätte sie geglaubt, dass die deutsche Währung auch der Dollar sei. Was mich am meisten beeindruckte, war die Selbstverständlichkeit und ihr offensichtlich gesundes Selbstbewusstsein, mit dem sie solche Ignoranz eingestand. Freundschaftlich vertieften wir uns in ein Spiel, in dem wir die gegenseitige Unwissenheit über des anderen Land testeten. Neben herzlichem Gelächter konnte man immer wieder den erstaunten Ausruf: "Oh, wirklich?" hören. Wer da ohne Mangel ist, der werfe den ersten Stein!
Manchmal, wenn ich auf dem Campus alleine war, stand ich still, um die frische, reine Wüstenluft zu atmen und meine gehetzten, zielorientierten Gedanken rasten zu lassen. In solchen Momenten konnte ich meine eigenen Nerven singen hören. Ich war mir bewusst, dass um mich herum, in jede Himmelsrichtung, 1.000 Meilen bizarre, schöne, aber auch gefährliche Sonora Wüste lag. American Samoa kam mir in den Sinn. Dort war ich inmitten einer gigantischen Wasserwüste, wenn man so will. Jetzt stand ich in einer schier endlosen Sand- und Steinwüste. Aber anders als in Samoa landeten und starteten hier täglich viele Flüge. Außerdem hatten wir ein Auto, mit dem man ja auch losfahren konnte.
Diese Vorstellung wurde allerdings jäh gestört, als Arizona 1973 die erste Ölversorgungskrise erlebte. Sie machte mir klar, dass ein Motor alleine die Mobilität nicht sichern konnte und dass dieser Fleck Erde von funktionierender Versorgung von außen abhängig war. Meine Vorstellung lief kurze Zeit Amok, da ja auch Lebensmittel ohne Lastwagen nicht ankommen konnten.
Unter Freunden und Bekannten war Humor das Vehikel, mit dem wir versuchten, unsere unterschwellige Angst vor dem leeren Benzintank zu unterdrücken. Da sie alle mit einem Auto auf den Campus kamen, hatten sie Grund zu bangen. Ein Pferd, meinten einige, würde uns Benzinfreiheit verschaffen. Sicher, meinten andere, man könnte an jeden Laternenpfahl, der auf dem College-Gelände stand, ein Tier anbinden. Das wäre mal etwas Abwechslung vom täglichen Einerlei. Ich schlug vor, dass ein Kamel wohl der Gipfel der Freiheit wäre, denn es bräuchte nur alle zwei Wochen zum Wassertank geführt werden. Mit anderen Worten, wir hatten viel Spaß, unsere Fantasie spielen zu lassen. Ich fühlte mich in diese Solidarität völlig mit eingeschlossen. Das Gefühl der Zugehörigkeit war während dieser Tage sehr präsent. Sicher wäre es stärker geworden, wenn nicht einige immer wieder auf meine ausländische Herkunft zurückgekommen wären, egal ob aus positiven oder negativen Gründen.
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