Thomas Buergenthal, heute Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, hat als kleiner Junge mit eigenen Augen gesehen und erlebt, was im KZ geschah. Er kann sich bis heute nicht mit derartigen Bildern konfrontieren. Er kann nicht hinschauen, weil sie die Gefühle von damals wecken, wie er in einem Fernsehinterview anlässlich der Vorstellung seines Buches „Ein Glückskind. Wie ein kleiner Junge zwei Ghettos, Auschwitz und den Todesmarsch überlebte und ein zweites Leben fand“ unter starker emotionaler Betroffenheit mitteilte. Es habe ihn schon während des Schreibens unendlich viel Kraft gekostet, sich mit seiner Vergangenheit und dem Erlebten zu konfrontieren. Freunde hatten ihn eingeladen, den Film „La Vita è bella“ zu sehen. Er musste das Kino verlassen, weil das filmische Material ihn emotional direkt in seine eigenen Erlebnisse der Nazizeit katapultierte. Worum geht es in dem Film? „Das Leben ist schön“ ist ein Film von Roberto Benigni aus dem Jahr 1997: Ein Vater schützt seinen Sohn mit Geschichten und Phantasie vor der grausamen Realität eines Konzentrationslagers. Er macht ihm glaubhaft, dass es für die KZ-Häftlinge, die der Vater als Mitbewerber im Spiel erscheinen lässt, Punkte zu sammeln gilt und der Gewinner einen Panzer als Preis erhält. Schließlich fährt der kleine Junge auf einem Panzer – mit den Siegern – aus dem KZ heraus. Er hat die Grausamkeiten nie als Wirklichkeit wahrgenommen, für ihn war alles Spiel – der Vater ist kurz vor der Befreiung durch die Amerikaner von den Nazis erschossen worden. Auf seiner Fahrt auf dem Panzer erkennt er in einem Zug von Flüchtlingen seine Mutter. Bevor der Junge und die Mutter erfahren, dass der Vater tot ist, ist der Film zu Ende.
Ein denkwürdiger Film, in dem auf wundersame Weise die Wirksamkeit von Idealisierung und Verleugnung als Abwehrmechanismus filmisch umgesetzt wird und als Liebe eines Vaters zu seinem Sohn erscheint. Würde man den Film nun in der Realität filmisch für den kleinen Jungen hinsichtlich der Folgen umsetzen, wäre es fraglich, welche Gefühle er zu realisieren hätte, dass sein Vater erschossen wurde, während er, der kleine Junge, als Sieger des Spiels das KZ verlässt. Vielleicht würde auch er reagieren wie Thomas Buergenthal. Dieser kann sich nicht konfrontieren mit Bildern aus jener Hitler-Zeit, weil es ihn emotional zu sehr mitnimmt. Er ist sensibilisiert für das Leid, aber genau dadurch sensibilisiert für Recht und Unrecht, deren Einhaltung er zu seinem Berufsinhalt wählte – wenn diese Erfahrungen nicht als direkte Berufung zu verstehen sind. Das Leid wurde ihm zur Triebfeder in seinem Beruf, was keine Selbstverständlichkeit, aber auch keine Seltenheit ist. Erfahrungen werden auf viele verschiedene Arten und Weisen verarbeitet. So können negative Erfahrungen auch emotional verdreht als heilbringend, also gut, deklariert werden, wie Alice Miller schrieb, wenn nicht benannt werden darf, was bestimmte Erfahrungen tatsächlich bedeutet haben! Das „Wie“ oder die „Art und Weise“ wird zum alten Trägerstoff, der das vermeintlich „Gute“, den „neuen Inhalt“, transportiert. Dann wird Negatives in vermeintlich Positives, so der naive Glaube des Menschen, verkehrt. Diese Nahtstelle ist sehr genau unter die Lupe zu nehmen oder zumindest zu bedenken und klarzustellen.
Angesichts dessen, was in unserem Leben, in unserer Kultur, in unserer Gesellschaft vor sich geht, stellt sich die Frage: Was können wir tun? Um zur Beantwortung dieser ersten Frage zu kommen, müssen zunächst andere Fragen gestellt werden: Was vermögen wir zu sehen? Und was können oder wollen wir nicht sehen? Wie weit können wir gehen mit dem, was wir nicht sehen wollen? Was geht, was geht nicht? „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas hervorrufen?“, fragte Edward Norton Lorenz, Entwickler der Chaostheorie und Erfinder des „butterfly effects“ 1960 in einem seiner ersten Vorträge. Inzwischen wissen oder glauben wir: Er kann.
Zumindest wird es wissenschaftlich so gesagt – der Vorteil einer solchen Sichtweise liegt mittlerweile politisch mittels Übertragung auf der Hand: Niemand vermag mehr zu sagen, was eigentlich die Ursache von Naturkatastrophen, Einbrüchen am Aktienmarkt oder sozialen Umstrukturierungen sind. Dies bedeutet, die Grundaussage der Chaostheorie wurde als Beleg in der kapitalistischen Wirtschaft benutzt, um sich jeglicher Verantwortung entledigen zu können: Man kann nicht mehr sagen, was die Ursachen sind, weil die systemischen Einflüsse weder absehbar noch nachvollziehbar sind oder werden! Das heißt weiter: Man geht im Kapitalismus vor wie die Züchter: Gut bei Gut – das Schlechte wird aussortiert, weil es nicht den Gewinn erhöht. Inzwischen ist das „Schlechte“ nicht mehr fehlende Erneuerung von Produktionswerkzeugen oder Technik, sondern Menschen. Zu viele Menschen und zusätzlich am falschen Ort schmälern die Profitrate. Jahrzehntelang sind Menschen mit dem Leistungsprinzip, dem das Prinzip der gerechten Bezahlung für Leistungen in der Marktwirtschaft zuaddiert wurde, eingestuft worden. Dieses Denken griff ebenso auf Bildungs- und Fortbildungsstrukturen zu, die diejenigen von vornherein minder bedachten, die den staatlichen Weg der Volks-, später Grund- und Hauptschulen gingen. Züchtungen, die Gewinne verbürgen, werden als kreative Raketen gestartet und erscheinen als schnelle Märkte, in denen kurzfristig Kapital eingesetzt und kurzerhand ohne Rücksicht auf Verluste Mensch und Natur vermehrt wird. Das wirtschaftliche Erscheinungsbild gleicht der Theorien- und Erklärungsebene der Chaosforschung. Man weist dem unschuldigen Schlag eines Schmetterlings die ursächliche Position als Auslöser und Ursache dramatischer Veränderungen zu! Der Kapitalismus macht sich diesen wissenschaftlichen Umstand zur Schuld- und damit Verantwortungsabwehr zunutze – und züchtet ökonomische Schmetterlinge . Nach der Metamorphose mausert sich die kreativ mit Kapitaleinsatz entwickelte Idee zum Schmetterling. Wenn dieser Schmetterling dann den gewünschten Flügelschlag tut, der nahezu nicht mehr erklärbare Entwicklungen freisetzt, kann kaum noch die ausschlaggebende Ursache benannt werden. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Der aus Sicht der Entwickler kreativer Ideen erzielte Gewinn wird als positives Ergebnis bis an die Zähne bewaffnet verteidigt. Die negativen Folgen für Mensch und Natur werden abgewehrt und verleugnet. Aufgrund der Komplexität sei nicht mehr feststellbar, wer Verantwortung und gegebenenfalls Schuld trage, ist die wohl am häufigsten geäußerte Abwehr. Diese unscheinbaren, bis zur Anonymität gehenden und nicht mehr ursächlich feststellbaren Einflüsse sind der Verantwortung mittels der theoretischen Übertragung aus den Chaostheorien auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse enthoben. Zufall, Komplexität und nicht um Folgen Wissen können, werden zu Apologeten einer letztlich positiv skizzierten Zukunft, die grenzwertig in der Gegenwart Zerstörung von Mensch und Natur aufgrund ökonomischer Gewinne in Kauf nimmt. Eine fusionierende Bank, ein Militäreinsatz der Friedenstruppen, der oder die G8 bis G10-Gipfel, die Reformen im deutschen Gesundheitswesen, wo wird der Schmetterling gestartet, der den letzten Schlag in der Kultur vollzieht, der dann endgültig alles zum Erliegen bringt? Wir wissen nicht, was demnächst passiert und wer den Schmetterling fliegen lässt.
Damit stelle ich fest, dass es jemanden gibt, der Verantwortung trägt – die er nicht tragen will und die wissenschaftlich abgesichert erscheint. Nur die Folgen, aber nicht der Urheber sind dem Tageslicht ausgesetzt. Vorzeichen wollen nicht gesehen und als Handlungsgrundlage anerkannt und begriffen werden. Hinterher können wir uns fragen, was wir eigentlich nicht sehen und fühlen wollten – dann gibt es plötzlich doch Hypothesen, weshalb das passieren konnte.
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