Panik überkam ihn und er wandte sich rasch um. Seine Gedanken überschlugen sich und er wollte nur noch fort. Raus aus dem Haus! Er achtete jetzt nicht mehr darauf, möglichst leise zu sein.
Kurz vor der Hintertür meldeten sich aber trotz aller Panik andere Gedanken. Die an seine Schulden zum Beispiel. Der Mann im Arbeitszimmer war tot, doch der Tresor wartete noch. Vielleicht stand der ja sogar offen.
Widerwillig und mit sich selbst kämpfend, trat der Einbrecher den Weg in das Arbeitszimmer erneut an. Da lag der Tote noch. Langsam schlich er um den Schreibtisch herum, immer den Würgereiz unterdrückend. Hier von hinten erkannte er ein kleines Loch im Hinterkopf des Toten.
Fast mechanisch und immer darauf bedacht, nicht mit dem Blut in Berührung zu kommen, schaltete er die Lampe aus und setzte das Nachtsichtgerät wieder auf. In einer Hand hielt der Tote noch einen Luftpolsterumschlag, den der Einbrecher vorsichtig an sich nahm. Gut, dass kein Blut daran klebte. Dann öffnete er vorsichtig eine Schublade des Tisches.
Aber der Eindringling kam nicht weit, denn plötzlich vernahm er Geräusche von der Eingangstüre her. Erneut überfiel ihn Panik. Mit dem Umschlag in der Hand stürmte der Mann in die Diele. Er spürte förmlich, wie das Schloss der Eingangstüre entriegelt wurde und seine Panik steigerte sich weiter. Zur Hintertür würde er es niemals schaffen! Ohne viele Gedanken zu verschwenden, lief er in letzter Sekunde die Treppe zum Obergeschoss hoch. Hinter sich hörte er, wie die Haustüre leise quietschend geöffnet wurde. Rasch erreichte er den oberen Treppenabsatz und sah sich gehetzt um. Das Schlafzimmer lag am Ende des Flures und verfügte über einen Balkon. Aber die Angst führte ihn in Richtung des Badezimmers, als vermeintlich besseres Versteck. Jetzt drangen aus dem Erdgeschoss leise Geräusche zu ihm herauf und sein Denken setzte aus.
Mit zittrigen Fingern verriegelte der Einbrecher die Badezimmertüre und sah sich panisch um. Ein kleines Fenster über der Badewanne spiegelte das matte Licht der Straßenlaternen wider. Der Fluchtweg! Doch zunächst warf er einen kurzen Blick in den Umschlag. Fluchend wühlte er zwischen einigen Notizzetteln herum, fand aber kein Bargeld. Dann lauschte er angestrengt. Jetzt ließen sich von unten keine Geräusche mehr vernehmen und ein wenig legte sich seine Panik. Wer immer durch die Vordertür eingebrochen war, befand sich bestimmt schon wieder außerhalb des Hauses. ‚Vielleicht ist es ja der Mörder, der sich von dem Ergebnis seiner Tat überzeugen will und deswegen in das Haus eingebrochen ist‘ dachte er und wähnte sich jetzt ein wenig sicherer. Seine Gedanken kreisten um die Flucht aus diesem Haus und er blickte sich in dem Raum um. Schließlich wandte er sich dem kleinen Fenster zu und wurde zum zweiten Mal enttäuscht. Das Fenster war fest verriegelt und ohne Schlüssel würde es sich nicht öffnen lassen. Wieder stieg eine Welle von Panik in ihm hoch, als ihm klar wurde, dass er jetzt in der Falle steckte. Doch dann erinnerte er sich an seine Dietriche. Rasch ließ er den Umschlag in dem Rucksack verschwinden und begann mit zittrigen Händen das Schloss zu öffnen.
Plötzlich wurde die Klinke der Badezimmertüre knirschend niedergedrückt. Aber die Tür war verschlossen, der Mörder könnte nicht so einfach in das Bad gelangen. Was aber, wenn der auch über einen Dietrich verfügte? Schließlich musste der Mann ja die Eingangstüre auch irgendwie aufbekommen haben? Der Einbrecher verdoppelte seine Bemühungen.
In diesem Moment erschollen Polizeisirenen auf der Straße. Gleichzeitig hörten die Geräusche an der Badezimmertür auf. Rufe erschollen, offensichtlich drangen mehrere Polizisten in das Haus ein. Jetzt endlich gab auch das Schloss am Fenster nach und nachdem er sein Nachtsichtgerät hastig verstaut hatte, warf er seinen Rucksack, ohne lange zu überlegen, hinaus und beeilte sich ihm zu folgen.
In dem Moment, als er ein Bein durch das Fenster steckte, zersplitterte das Schloss an der Badezimmertüre und ein Polizist mit vorgehaltener Waffe stürmte in den Raum.
Der Einbrecher hob resigniert die Hände.
„Setzen Sie sich.“ Der Mann hinter dem Schreibtisch sah nicht einmal auf, sondern widmete sich weiter den vor ihm liegenden Papieren.
Ronald C. Nayst ließ sich langsam auf den angebotenen Stuhl sinken. Der hinter dem überdimensionalen Möbelstück sitzende Mann entsprach genau dem, was man ihm im Vorfeld erzählt hatte: klein, zirka ein Meter siebenundsechzig, dick, Glatze, aber dafür mehr Haare im Gesicht, die er in Form eines Henry des Vierten, eines sogenannten Henriquatre Bartes, trug. Das Bild wurde durch eine dicke Hornbrille abgerundet. Ronald - oder besser Ron, wie ihn seine Freunde nannten - empfand direkt so etwas wie Unbehagen beim Anblick dieses Mannes. Aber er wollte nicht voreingenommen sein und erst einmal abwarten, wie dieser Chefradakteur der Berliner Zweigstelle ihrer Zeitung ‚New York News Paper‘, kurz NYNP, sich ihm gegenüber verhalten würde.
Der nahm allerdings zunächst keinerlei Notiz von seinem Gegenüber und blätterte weiter in einigen Papieren. Dann setzte er die Brille mit einem Seufzen ab, fuhr sich mit einer Hand über die Augen und fixierte den Mann auf dem Stuhl mit zusammengekniffenen Augen.
„Sie also sind Ronald Nayst?“
Ron nickte und zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. „Und sie sind Thorsten Fellger, der Chefredakteur“, stellte er fest, erhob sich und hielt dem Mann hinter dem Schreibtisch die Hand hin.
Fellger übersah sie geflissentlich und setzte stattdessen seine Brille wieder auf. „Gut, gut. Sie waren ja für heute angekündigt“, ließ er sich nach einer kurzen Pause vernehmen und blätterte erneut in den Papieren herum. „Mir ist allerdings schleierhaft, warum man sie hier zu uns versetzt hat. Wir brauchen niemanden aus der New Yorker Zentrale. Was wir brauchen, ist ein der deutschen Sprache mächtiger Online Redakteur. Und so welche finden wir hier auf dem deutschen Arbeitsmarkt zuhauf!“
Ronald Nayst nickte. Man hatte ihn schon gewarnt, dass dieser Fellger ein eher schwieriger Typ sei. Schließlich hatte der sich lange erfolgreich dagegen gewehrt, jemanden aus der Zentrale in die Berliner Redaktion zu bekommen. Aber letztlich gingen dem Mann die Argumente aus, insbesondere da die Fluktuation unter den Redakteuren hier besonders hoch war. Fellger hatte inzwischen vier Online Redakteure verschlissen, die alle schon nach sehr kurzer Zeit das Handtuch warfen.
„Also brauchen wir niemanden aus New York, auch wenn es der Sohn vom Boss ist. Gerade, wenn es der Sohn vom Boss ist“, ergänzte der Dicke und tippte mit dem Mittelfinger der rechten Hand auf die Papiere. „Sie sind ja noch nicht einmal lange genug im Geschäft, um hier effektiv arbeiten zu können. Herr Nayst, wie ich lese, haben sie ihr Studium vor zwei Jahren beendet und sind erst seit sechs Monaten in der Redaktion tätig.“
Ron nickte erneut: „Und davor die anderthalb Jahre habe ich bei verschiedenen Redaktionen Erfahrungen gesammelt. Ganz so unbedarft, wie sie denken, bin ich also nicht.“
Der Dicke seufzte, nahm die Brille ab und fuhr sich wieder über die Augen. Das schien so eine Art Ritual bei ihm zu sein. „Gut, gut. Dann beweisen sie einmal, was sie können. Wie steht es eigentlich mit ihren Deutschkenntnissen? Sind sie überhaupt in der Lage, sich entsprechend auszudrücken?“
Ron lächelte: „Deutsch ist meine zweite Muttersprache. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn meine Mutter war Deutsche, als sie meinen Vater heiratete. Ich bin quasi viersprachig aufgewachsen, denn meine Eltern erzogen mich in Englisch, Deutsch, Französisch und - ein Steckenpferd meines Vaters - in Chinesisch. Spanisch habe ich dann während meines Studiums gelernt.“
Fellger winkte ungeduldig ab: „Hier reicht es, wenn sie ein anständiges Deutsch zu Papier bringen. Und erwarten sie keine Sonderbehandlung, nur weil sie der Sohn vom Chef sind. Wir ziehen alle an einem Strang und wenn sie aus der Reihe tanzen, dann sorge ich dafür, dass sie schneller wieder in ihrem geliebten Amerika sind, als sie denken. Und jetzt an die Arbeit. Wenden sie sich an Fräulein Rienatz, die leitet momentan unsere Online Redaktion. Oder leitete, denn jetzt sind ja sie da. Lassen sie sich von Fräulein Rienatz alles erklären. Entsprechende Computererfahrung werden sie doch wohl haben? Fräulein Rienatz kann sie ja unmöglich in der Beziehung auch noch anlernen. Also, auf junger Mann. Es gilt keine Zeit zu verlieren. Time it‘s monday, wie sie so schön sagen!“
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