Im Vorderteile des »Kaukasus« befanden sich noch weit zahlreichere Passagiere, nicht allein Ausländer, sondern auch Russen, denen die Verordnung nach den Heimatsstädten der Provinz zurückzukehren nicht verbot.
Dort saßen oder standen Mujiks umher mit Kappen oder Mützen auf dem Kopfe, bekleidet mit einer Art Hemd aus kleinquarrirtem Stoffe unter dem Pelze; Bauern aus den Wolgadistricten, die blauen Beinkleider in den Stiefeln, das Hemd von röthlichem Baumwollengewebe mit einem Strick gegürtet, und mit flacher Kappe oder Filzmütze. Einige Frauen in geblümten Baumwollkleidern trugen Schürzen mit möglichst lebhaften Farben und grellroth gemusterte Tücher um den Kopf. Hieraus setzten sich meist die Passagiere der dritten Klasse zusammen, welche die Aussicht auf eine langdauernde Rückfahrt nicht sonderlich zu belästigen schien. Jedenfalls war dieser Teil des Decks dicht mit Menschen besetzt. Die Insassen des Hinterdecks vermieden es auch, sich unter Jene zu mischen, deren Bereich übrigens durch Bezeichnung auf den Klappen der Luken begrenzt war.
Mit der vollen Kraft seiner Schaufeln eilte der »Kaukasus« indessen zwischen den Ufern der Wolga dahin. Er kreuzte sich mit vielen durch Remorqueure stromaufwärts geschleppten Booten, welche noch allerlei Waaren nach Nishny-Nowgorod beförderten. Dann schwammen Holzflöße daher, so lang wie die unmeßbaren Sargassobündel im Atlantischen Ocean, und bis zum Versinken beladene Flachschiffe, die bis zum Dahlbord im Wasser gingen. Übrigens sehr unnütze Waarentransporte, insofern ja die Messe bald nach ihrem Anfang plötzlich geschlossen worden war.
Die von dem Wellenschlage des Dampfers überspülten Ufer der Wolga zeigten sich mit großen Entenschwärmen besetzt, welche mit betäubendem Geschnatter aufflogen. Darüber hinaus weideten auf den dürren, von Birken, Weiden und Espen umrahmten Ebenen einzelne rothbraune Kühe, Heerden von Schafen mit bräunlichem Fell und ganze Haufen von weißen und schwarzen Schweinen und Ferkeln. Einige mit magerem Buchweizen oder dürftigem Korn bestandene Felder dehnten sich bis über kleine Landerhebungen aus, welche indeß nirgends eine bemerkenswerthe Aussicht bildeten. In diesen einförmigen Landstrichen hätte der Stift des Zeichners, wenn er pittoreske Bilder suchte, gewiss nichts zu tun gefunden.
Zwei Stunden nach der Abfahrt des Kaukasus wandte sich die junge Liefländerin an Michael Strogoff und fragte:
»Du gehst nach Irkutsk, Bruder?
– Ja, Schwester, erwiderte der junge Mann. Wir haben Beide den nämlichen Weg. Wo ich hindurchkomme, wirst auch Du hindurchkommen.
– Morgen, Bruder, sollst Du erfahren, warum ich die Küste der Ostsee verließ, um nach jenseits der Berge des Ural zu ziehen.
– Ich frage nach Nichts, Schwester.
– Du sollst Alles wissen, antwortete das junge Mädchen, auf deren Lippen ein schmerzliches Lächeln spielte. Eine Schwester darf ihrem Bruder nichts verheimlichen. Heute könnte ich aber nicht! .... Die Anstrengung, die Verzweiflung haben meine Kräfte verzehrt.
– Willst Du in Deiner Cabine ausruhen? fragte Michael Strogoff.
– Ja .... ja .... und morgen ....
– So komm ...!«
Er brach den Satz ab, so als hätte er ihn mit dem ihm noch unbekannten Namen seiner Begleiterin schließen wollen.
»Nadia, sagte sie und reichte ihm die Hand.
– Komm, Nadia, und verfüge über Deinen Bruder Nicolaus Korpanoff ohne alle Umstände.«
Er geleitete das junge Mädchen nach ihrer Cabine nahe dem Salon des Hinterteils.
Michael Strogoff kehrte nach dem Deck zurück und mischte sich, begierig zu hören, doch ohne sich an den Gesprächen zu beteiligen, unter die Gruppen der Passagiere, aus deren Worten er Das oder Jenes zu vernehmen hoffte, was seine Reiseprojecte vielleicht zu beeinflussen im Stande wäre. Sollte er zufällig selbst gefragt und zu einer Antwort genöthigt werden, so wollte er sich für den Kaufmann Nicolaus Korpanoff ausgeben, den der »Kaukasus« nur nach der Grenze zurücktrug, denn Niemand sollte vermuthen, dass ihn eine spezielle Mission berechtigte, nach Sibirien zu reisen.
Die Ausländer auf dem Dampfer konnten offenbar nur von den Tagesereignissen, jener Verordnung und ihren Folgen, sprechen. Die armen Leute, welche kaum die Strapazen einer Reise durch das innere Asien hinter sich hatten, sahen sich gezwungen, wieder umzukehren, und wenn sie ihrem Zorn nicht in lautem Ausbruche Luft machten, so lag die Ursache nur darin, dass sie das nicht wagten. Eine respectvolle Furcht hielt sie zurück. Möglicher Weise befanden sich zur Ueberwachung der Reisenden auch auf dem »Kaukasus« geheime Polizisten; da galt es, die Zunge im Zaum zu halten, denn diese Austreibung war der Einsperrung in einer Festung doch immer noch vorzuziehen. Deshalb schwiegen auch die meisten Gruppen oder flüsterten sich die Worte gegenseitig nur so vorsichtig zu, dass daraus im Zusammenhange nichts zu entnehmen war.
Konnte Michael Strogoff aber von dieser Seite nichts vernehmen, oder schwiegen die Leute wohl auch ganz und gar – denn man kannte ihn ja nicht, – so traf sein Ohr dafür der Laut einer Stimme, welche ziemlich unbesorgt zu sein schien, ob sie gehört wurde oder nicht.
Der Mann mit der hellen Stimme sprach russisch, aber mit fremdem Accente, und sein mehr zugeknöpfter Nachbar antwortete ihm in derselben Mundart, welche offenbar auch seine Muttersprache nicht war.
»Wie! rief der Erste, wie, auf diesem Schiffe, Herr College, Sie, den ich bei dem Feste des Kaisers in Moskau und dann erst in Nishny-Nowgorod wieder sah?
– Gewiss, ich selbst! entgegnete trocken der Andere.
– Nun, frei heraus gesagt, ich erwartete nicht, dass Sie mir so unmittelbar, so auf den Fersen folgen würden.
– Ich folge Ihnen, nicht, mein Herr, ich gehe Ihnen voraus.
– Vorausgehen! Vorausgehen! Wir wollen wenigstens sagen, wir marschiren gleichen Schrittes in der Front, wie zwei Soldaten bei der Parade, und vorläufig könnten wir übereinkommen, Keiner dem Andern zuvor zu kommen.
– Ich werde es doch tun!
– Das wird sich erst auf dein Kriegsschauplätze zeigen; doch bis dahin können wir, zum Teufel, doch Reisegenossen sein. Später werden wir noch Zeit genug finden, gelegentlich Rivalen zu werden.
– Feinde!
– Meinetwegen auch Feinde! Ihre Worte, Herr College, besitzen eine Klarheit des Ausdrucks, welche mich höchst angenehm berührt. Bei Ihnen weiß Einer doch, woran er ist.
– Nun, was ist daran so schlimm?
– O nichts, gar nichts! Erlauben Sie, dass auch ich mir die Freiheit nehme, unseren gegenseitigen Standpunkt fest zu stellen.
– Nach Belieben.
– Sie gehen nach Perm .... wie ich?
– Wie Sie.
– Und begeben sich von Perm aus wahrscheinlich nach Jekaterinburg, auf dem besten und sichersten Wege zur Überschreitung des Uralkammes.
– Wahrscheinlich.
– Nach Überschreitung der Grenze werden wir in Sibirien, d. h. inmitten des überfallenen Gebietes sein.
– So ist es.
– Nun dann, aber auch erst dann wird es Zeit sein, zu sagen: ›Jeder für sich und Gott mit ....‹
– Gott mit mir!
– Gott mit Ihnen! Ganz allein! Sehr schön! Da wir indeß noch acht neutrale Tage vor uns haben und es unterwegs voraussichtlich keine Neuigkeiten regnen dürfte, so lassen Sie uns Freunde sein, bis wir zu Rivalen werden.
– Zu Feinden!
– Ja wohl, das ist richtiger: Zu Feinden! Bis dahin können wir aber in Uebereinstimmung handeln und brauchen uns gegenseitig nicht zu verzehren! Ich verspreche Ihnen überdies, Alles für mich zu behalten, was ich etwa sehe ....
– Und ich Alles, was ich etwa höre.
– Abgemacht?
– Abgemacht!
– Ihre Hand darauf?
– Hier ist sie!«
Und die Hand des ersten Sprechers, d. h. fünf weit offene Finger, schüttelte kräftig die beiden Finger, welche der Zweite phlegmatisch hinhielt.
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