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2.5. Motivation zum Lügen • Betrügen: Aspekt Akzeptanz
Ein Psychotherapeut sagte mir, dass er prinzipiell immer für seine Klienten Position bezieht. Er unterstützt die Person, die zu ihm kommt. Das ist sein Selbstverständnis als Therapeut. Auch einen Betrüger würde er unterstützen, da dieser seine Gründe hätte, zu betrügen.
Das sehe ich natürlich differenzierter.
Nicht jeder Betrug ist in meinen Augen verwerflich. Ich akzeptiere eine Mutter ohne Existenzgrundlage, die mit betrügerischen Mitteln versucht, an das Nötigste für ihre Kinder zu kommen. Ich würde versuchen, mit ihr einen Weg zu finden, ihre Kinder ohne Betrug versorgen zu können.
Im 3. Reich haben manche Beamte falsche Stammbäume oder Ausweise für Juden erstellt. Das war Betrug. Das war natürlich gefährlich im Nazi-System und wenn dieser Betrug heraus kam, konnte es den Beamten das Leben kosten. Für solchen Betrug bin ich voller Hochachtung! Ich werte ihn als Heldentat!
Der zitierte Psychiater hatten wahrscheinlich noch nie einen Betrüger als Klienten. Vielleicht war seine Aussage unbedacht. Wahrscheinlich schwebte ihm eine literarische Figur vor wie „Felix Krull“ oder den Helden des Filmes „catch me if you can“: intelligente, phantasiebegabte Personen, die sich auf ihre Weise durchs Leben tricksen, ohne irgend jemandem wirklich zu schaden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er an einen Betrüger wie Jochem dachte. Solch eine destruktive Persönlichkeit ist ihm wahrscheinlich noch nie begegnet, weder real noch in seinen Aus- und Fortbildungen.
Lüge kommuniziert Unwahrheit
Wie gesagt, wir alle lügen von Zeit zu Zeit, darum wissen wir, wie das geht. Aber unser Lügen ist dilettantisch, nicht professionell. Professionelles Lügen lehren die professionellen Lügner einander. Dazu fälschen sie nicht nur Ausweispapiere, sondern Persönlichkeiten, Gefühle, Lebenserinnerungen und alles, was zum normalen Leben gehört.
„Lügen – ohne zu lügen“ ist ein sehr wichtiges Element, denn „dann kann dir keiner was nachweisen“. Wie geht das?
im Gegenüber einen anderen Eindruck erwecken
z.B. durch Weglassen von Informationen
„eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge“
Ablenkung
Antworten, die an der Frage vorbei gehen
unauffälliges Vorspiegeln, die Frage nicht verstanden zu haben
...usw...
Welche Auswirkungen haben Lügen auf die Umgebung, die Beziehungen? Lüge
verunsichert – doch Menschen brauchen Sicherheit
bringt Menschen auf Distanz – doch Menschen brauchen Nähe
untergräbt Vertrauen – doch Menschen brauchen Vertrauen
…
Ein Grundschulkind sollte eine Zahnspange bekommen. Eine Zahnspange reichte für diese Kieferanomalie nicht aus, darum sollte operiert werden. Die OP ging schief, eine weitere OP musste folgen und wieder eine weitere. Komplikationen entwickelten sich. Das Kind hatte jahrelang starke Schmerzen trotz Schmerzmittel, Probleme mit Nahrungsaufnahme und in der Folge Schlafstörungen, Depressionen usw. Die Eltern litten; beide Eltern meinten es von Herzen gut mit ihrem Kind und konnten das Elend schier nicht ertragen. Das Kind fing an, den Eltern vorzuspielen, dass es ihm gut geht. Diese Not-Lüge zugunsten der Eltern wurde zur Zusatzbelastung, denn zu den Schmerzen und Depressionen kam die Vereinsamung des Kindes. Als Erwachsene suchte sie Psychotherapie. Die Lügenbeziehung zu den Eltern wurde thematisiert und als ungut gewertet. Doch ich sehe in diesem Fall die tragische Krankheitsentwicklung als Hauptbelastung für alle Seiten; die kindliche Lüge „es geht mir gut!“ war gewissermaßen überlebensnotwendig für dies Familiensystem. Ohne diese Lüge wären die Eltern zusammen gebrochen. Wem wäre damit gedient gewesen?
Die meisten Familienlügen haben ähnliche Hintergründe. Es liegen untragbare Lasten auf der Familie wie z.B. Kriegstrauma-ta. Um sie erträglich zu machen, werden verschiedene Lügen-varianten installiert: Ignoranz, Leugnen, Bagatellisieren, usw...
Normale Menschen nutzen die Möglichkeiten, die sich im Leben bieten, wahren dabei aber gewöhnlich die Grenzen: Illegales meiden sie, und anderen Menschen schaden wollen sie auch nicht. Zwar können normale Menschen diese Grenzen auf unterschiedliche Weise ein wenig verschieben, beispielsweise werden Menschen mit anderer Hautfarbe oder Menschen, die weit entfernt leben, „entmenschlicht“. Auch Gruppenvorbilder spielen eine Rolle („Schulden machen doch alle!“).
Überschreitet ein normaler Mensch diese inneren Grenzen, merkt man ihm Nervosität an. Er wird rot, bekommt schweißige Hände usw – das berühmte „schlechte Gewissen“ wird sichtbar. Dies ist eigentlich eine Angst-Symptomatik: hier ist es die Angst, eine Grenze zu überschreiten.
Die gleichen Symptome, das Rot-Werden und die schweißigen Hände, treten auch bei Gewaltopfern auf, die in Situationen geraten, die ihre Traumata triggern, also Ängste auslösen. Das ist beispielsweise bei Begegnungen mit Polizei der Fall. Dann kann diese Symptomatik fälschlich als Äußerung eines schlechten Gewissens fehl gedeutet werden.
Ein Betrüger dagegen hat dieses inneren Grenzen nicht. Wenn er lügt, kann man das nicht an o.g. Symptomatik erkennen. Er überschreitet Grenzen ohne Angst, ohne schlechtes Gewissen. Er lügt permanent, sein Leben besteht aus Lüge. Genau aus diesem Grund kommt er so glaubwürdig rüber. Er tischt seiner Umgebung immense Lügen auf. Normale Menschen wären gar nicht imstande, sich so etwas auch nur auszudenken. Bei der Vorstellung, solche Lügen zu nutzen, wird ihnen Angst und übel, es ist ihnen unvorstellbar. Das wiederum nutzt der Betrüger: mit freier offener Mimik lügt er seine normale Umgebung an – und kommt glaubwürdig rüber!
Das Gegenteil der Lüge ist die Wahrheit. Doch was ist Wahrheit? Das fragte schon Pilatus, händewaschend, als er von den Mächtigen eines aufmüpfigen, dem römischen Reich durch Gewalt einverleibten und schwer zu beherrschenden Volkes in einem Scheinprozess instrumentalisiert wurde, einen harmlosen freundlichen Wanderprediger zum Tod durch Folter zu verurteilen.
Was ist Wahrheit? Darüber philosophieren und diskutieren Menschen lange, breit und tief.
Ich definiere Wahrheit als Realitätsbezug. Für mich ist Wahrheit etwas sehr pragmatisches. Angenommen, ich würde rund um die Uhr von einer Kamera begleitet, die alles aufnimmt, was ich tue. Angenommen, diese Kamera würde jeden meiner Schritte fest halten, jeden meiner Handgriffe, jedes Wort, jede Mimik, jeden Tonfall: das wäre die Wahrheit meines Lebens. Käme dann noch jeder Gedanke dazu, jedes Gefühl, jeder Impuls, mein ganzes Innenleben, dann wäre die Wahrheit meines Lebens perfekt.
Diese Idee erinnert jetzt an die vielen Überwachungskameras überall um uns herum und an den Überwachungswahn übermisstrauischer Systeme gegen ihre Bürger; dazu später mehr. Nein, diese Assoziation bitte schnell wieder verbannen! Mir geht’s um die Idee, die Vorstellung, um meinetwillen und um des Laufes der Weltgeschichte willen.
Ich stelle mir vor, dass diese Kamera mein ganz persönlicher Besitz ist. ICH kann mir MEINEN Film ansehen, wann ICH will. Und dieser Film gefällt mir nicht immer. Die Hauptdarstellerin ist keine Heldin. Sie hat Schwächen und macht Fehler, ist nicht immer hübsch und nicht immer nett. Manchmal kann ich „meinen Film“ nicht gut ertragen. Aber dieser „Film“ ist die Wahrheit meines Lebens, meine Realität.
Ach ja, gibt es das, eine Realität? Schenkt man weiten Diskussionsrunden Glauben, deren TeilnehmerInnen aus den Bereichen Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie, Sozialarbeit, Philosophie und dergleichen kommen, gibt es sie nicht, die Realität. Für sie gibt es „nur Wahrnehmung“, und die ist „individuell unterschiedlich“.
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