Ina van Lind
Die versteckte Welt
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Inhaltsverzeichnis
Titel Ina van Lind Die versteckte Welt Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
Kapitel 1: Rike, ein Flohmarktbesuch, ein Buch, eine Kugel und ein Zaunkönig
Kapitel 2: Was ist ein Fjäl-Fräs?
Kapitel 3: Das Margeritenmädchen
Kapitel 4: Ein Neidnagel
Kapitel 5: Das immergrüne Land
Kapitel 6: Die Schneekönigin
Kapitel 7: Die verlorene Kugel
Kapitel 8: Der entscheidende Tipp
Kapitel 9: Im Sumpf
Kapitel 10: Frau Blumenthals Entsorgung
Kapitel 11: Der blitzblanke Putztrupp
Kapitel 12: Nele petzt
Kapitel 13: Das Haus des Zaunkönigs
Kapitel 14: Ein aufschlussreiches Frühstück
Kapitel 15: Ein alter Koffer
Kapitel 16: Kennt Oma Luise Amin Abiden?
Kapitel 17: Gulos Plan
Kapitel 18: Ein rabenschwarzer Vogel im alten Kirschbaum
Kapitel 19: Die Ruinen des Palastes
Kapitel 20: Aufbruch
Kapitel 21: Stenbjorn, der Steinmensch
Kapitel 22: Raban, der Eitle und Mervyn Sem Silas
Kapitel 23: Im Kristallpalast
Kapitel 24: In Bellinas Haus
Kapitel 25: Der Steinkreis
Kapitel 26: Im Krater
Kapitel 27: Milla lauscht
Kapitel 28: Unerwarteter Besuch für Amin Abiden
Kapitel 29: Noch mehr rätselhafte Fragen
Kapitel 30: Eine tückische Kugel
Kapitel 31: Milla hat Glück
Kapitel 32: Der "Stein der Macht" und die Erdbeerfröschlein
Kapitel 33: Piccio
Kapitel 34: Die eiserne Tür
Kapitel 35: Aufbruch nach Aurum
Kapitel 36: Die Spiegelburg
Kapitel 37: Virgils Plan
Kapitel 38: Die Hängebrücke
Kapitel 39: Aus die Maus
Epilog
Impressum neobooks
Dienstag, 14. August 1917:
Karl lag auf dem Boden. Wie ein Stein, der vom Himmel gefallen war.
Völlig erschöpft, die Nase platt am Waldboden, schmeckte er bei jedem Atemzug den modrigen Geruch der Erde. Ihm war eisig kalt, nur seine Hände und Arme brannten wie Feuer. Die Beine dagegen spürte er kaum. Gerade so als würden sie nicht zu ihm gehören. Deswegen versuchte er auch unaufhörlich mit den Zehen kleine Kreise zu zeichnen. Es dauerte nicht lange, dann fühlte er plötzlich ein Kribbeln, als würden Ameisenkolonnen an seinen Beinen aufmarschieren und Kontakt zu allen Nervensträngen suchen. Karl biss die Zähne zusammen, rappelte sich auf und machte ein paar unsichere Schritte. Er wollte weg von diesem Ort. Nach Hause, zu seiner Mutter.
Seine Schulter schmerzte bei jedem Schritt. An den Händen und Unterarmen bemerkte er Schürfwunden. Daher kam also das brennende Gefühl auf seiner Haut. Sein Hemd war schmutzig und am Ärmel entdeckte er zudem einen großen Riss. Die Hose sah nicht viel besser aus. Er versuchte, den Dreck abzureiben. Vergeblich.
Karls Herz schlug schneller. So konnte er unmöglich seiner Mutter unter die Augen treten!
Er sah sie bereits vor sich. Ihr eingefallenes, blasses Gesicht mit den stets müden, traurigen Augen. Karl bildete sich ein, sogar ihr Seufzen zu hören. Dieser winzige Ausdruck einer Klage war für ihn viel schlimmer als jede Strafpredigt oder Ohrfeige. Er wusste, sie würde sofort Nadel und Faden hervorholen und das Hemd und die Hose flicken, denn Geld für neue Kleidung hatten sie nicht. Außer Kartoffeln und trockenem Brot gab es zuhause kaum etwas zu essen. Und das alles nur, weil dieser blöde Krieg war – und sein Vater tot.
Karl sah sich um und rief: „Jakob?“.
Nichts.
„Bist du hier?“
Stille.
„Wo bist du, Jakob?“ Seine Stimme zitterte.
„Jakob?“
Doch so oft er auch nach ihm rief, Jakob blieb verschwunden. Schluchzend sank Karl nieder und bedeckte das Gesicht mit seinen schmutzigen Händen. Seine Schultern bebten.
Unvermittelt sickerte ein kleines Bruchstück einer Erinnerung durch das Dunkel seiner Gedanken. Ihm fiel dieser fremde Junge mit den langen, schwarzen Haaren wieder ein, der ihn so hasserfüllt angesehen hatte, dass ihn selbst jetzt noch eine gewisse Furcht beschlich. Dabei war der Junge höchstens so alt wie er oder Jakob. Bestimmt war er auch noch keine sieben.
Es hatte doch so harmlos begonnen:
Jakob war wieder einmal aus dem Waisenhaus ausgebüxt, um mit ihm zu spielen. Sie hatten ein paar Brombeeren stibitzt und gerecht aufgeteilt. Da hatte Jakob eine Idee.
„Du, ich weiß ein neues Spiel! Das hier …“, Jakob hatte auf die Beeren gedeutet, „… ist ein Zaubermittel. Wenn wir die Beeren essen, landen wir in einer anderen Welt. Dort lebt ein König - mit seinem Volk natürlich. Und außerdem gibt es einen …“
Jakob hatte eine kurze Pause gemacht. Anscheinend musste er erst überdenken, was es Besonderes geben könnte.
„Vielleicht einen Zauberer?“, hatte Karl begeistert Jakobs Überlegungen fortgesetzt. Er schwärmte für Abenteuerspiele und konnte den Beginn kaum erwarten.
„Genau! Dort lebt ein ganz gemeiner Zauberer, der den König vom Thron stürzen will, damit er das Reich regieren kann.“
Damit verblassten Karls Erinnerungen. Als ob er geträumt hätte und plötzlich aufgewacht wäre.
Er schniefte und suchte seine Hosentaschen nach einem Taschentuch ab, doch das Einzige, was er zutage förderte, war ein Stein. Ungläubig starrte er ihn an.
Tiefrot funkelnd und angenehm glatt lag er in seiner Hand. Er kannte sich zwar nicht mit derartigen Schätzen aus, aber ihm fiel sofort ein, dass die Vermieterin ihrer Wohnung gelegentlich einen roten Stein an einer goldenen Kette um den Hals trug und prahlte, wie wertvoll er sei. Hastig schob er ihn in seine Hosentasche zurück.
Zuhause musste er ein sicheres Versteck finden. Wenn seine Mutter den Stein entdeckte, ging sie vielleicht davon aus, dass er der Vermieterin den Anhänger geklaut hatte.
Und das hatte er sicher nicht getan.
Oder womöglich doch?
Wie kam dieser Stein bloß in seine Tasche? So sehr er es auch versuchte, er erinnerte sich nicht mehr daran.
Kapitel 1: Rike, ein Flohmarktbesuch, ein Buch, eine Kugel und ein Zaunkönig
Samstag, 22. Oktober 2011:
Der Regen klopfte im Takt auf das Dachflächenfenster. Rike kauerte in ihrem Bett und lauschte. Klang es nicht so, als würde jemand mit den Fingern ans Glas pochen? Doch als sie schaudernd aus dem Bett stieg, um nachzusehen, zitterte sie noch mehr als vorher und kletterte mit eiskalten Füßen wieder zurück unter die Bettdecke.
Was war das nur für eine seltsame Nacht? Wieso schlug ihr Herz wie wild und warum konnte sie nicht einschlafen? Der Wecker zeigte doch schon fast Mitternacht. Sie tastete nach dem Lichtschalter und las noch einmal in dem Buch, das ihr eine merkwürdige, alte Frau auf dem Trödelmarkt zugesteckt hatte.
Rike hatte sich am Morgen, zusammen mit ihrer Schwester Nele und ihrem Vater, an einem Flohmarktstand altes Blechspielzeug angesehen, als die Händlerin einen uralten Kaugummiautomaten anpries, der ihren Worten nach wahre Wunder bewirken würde.
Der Kasten mit der abgeblätterten roten Farbe hatte zwar alles andere als magisch ausgesehen, doch Rike bettelte, bis ihr Vater endlich die fünf Euro herausrückte, die er kosten sollte. Die Frau schaufelte eine beachtliche Anzahl ihrer „unglaublichen, geheimnisumwobenen, einmaligen Spezialkaugummikugeln“ hinein, die sie in einem großen Bonbonglas mit der Aufschrift „Zauberkugeln“ aufbewahrte und drückte Rike ein betagtes Buch in die Hand. „Bewahre es gut! Du wirst feststellen, dass es von überaus großem Nutzen ist!“
„Die Farbenwelt - Eine Abenteuerreise zu dir selbst“, so stand in glitzernden, mystischen Schriftzeichen auf dem Buchdeckel.
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