Zuhause hatte Rike sofort zu lesen begonnen. Im ersten Kapitel ging es um die Farbe Grün, die anscheinend im Zusammenhang mit einem Landstrich namens Averda stand.
In den nächsten Kapiteln ging es um die Farben Weiß, Rot, Blau, Gelb, Orange, Lila, Braun und Schwarz.
Auf den letzten Seiten hatte jemand etwas notiert. Namen von Personen und Edelsteinen und Eigenschaften, die den Steinen oder Farben zugeordnet wurden.
… Grün: Frisch, gesund, aber auch unreif, bitter. Charakteristisch: Der Smaragd ist der Stein der Hoffnung, ebenso gilt er als der Stein der Weisheit, der geistigen Schöpfung und des esoterischen Wissens. Zugehöriges Land: Averda. Zugehörige Personen: Amin Abiden Vernon, Adelina Avalon (Piccio) …
So ging es weiter, Farbe für Farbe. Rike packte das Buch weg. Was für ein Quatsch! Für sie ergab das alles keinen Sinn.
Aber natürlich probierte sie noch am gleichen Abend, neugierig wie sie war, eine der Kaugummikugeln. Eine grüne. Furchtbar bitter hatte sie geschmeckt. Schlimmer noch als Grapefruit. Rike schüttelte es sogar jetzt noch bei dem Gedanken daran ab.
Doch es passierte nichts. Absolut nichts. Die Alte hatte ihnen wohl das Gerät nur aufgeschwatzt, um ihnen ein paar Euros aus der Tasche zu ziehen. Rike schloss müde die Augen, kuschelte sich in ihr Kissen und war im Handumdrehen eingeschlafen.
Der Nebel, der sich vor ihr ausgebreitet hatte wie ein fließendes, graues Seidentuch, lichtete sich plötzlich und gab den Blick frei auf eine ihr fremde, verborgene Welt.
Für einen Moment glaubte Rike sogar, ein Wispern zu hören. Eine helle Frauenstimme flüsterte etwas von einer Reise in das ewig grüne Land Averda.
Dann sah Rike auf ein Tal mit saftigen, grünen Wiesen, auf denen eine Schafherde weidete. Daneben stritten sich lautstark drei Kinder, wer das nächste Spiel bestimmen durfte und auf dem angrenzenden Acker klaubten ein Mann und eine Frau Kartoffeln in einen Korb. Die Frau richtete sich auf und drückte schmerzverzerrt eine Hand gegen ihren Rücken.
Bei der Gelegenheit bemerkte Rike, welch einfache, derbe und vor allen Dingen furchtbar altmodische Sachen die Menschen trugen.
Gegenüber der Weide erspähte Rike eine Anhöhe, die ein kleiner Tannenwald umsäumte. Ein Bach floss in ein nahe gelegenes Sumpfgebiet.
Und noch etwas fiel Rike auf: Stille. Es herrschte ungewöhnliche Ruhe. Kein Straßenlärm, kein Dröhnen von Baumaschinen, oder ähnlichem. Nichts. Nur beschauliche Stille.
Doch schon flog eine Schar Zaunkönige heran, landete auf einem nahen Baum und begann wild zu kreischen.
Der ältere Junge erstarrte zunächst in seiner Bewegung, als er die Vögel bemerkte, dann jagte er davon.
Im selben Augenblick rumpelte ein Einspänner den Feldweg entlang, bis er bei dem Acker ankam. „Brrrr“, knurrte der alte Mann, der ihn lenkte.
Er trug einen dunklen, zerknitterten Anzug. Der Hemdkragen sah abgewetzt aus und war zudem schief geknöpft. Seinen Hut benutzte der Greis offenbar auch als Kissen. Völlig zusammengedrückt saß er auf seinem Kopf. Mit seinen grauen, buschigen Augenbrauen, dem gezwirbelten, weit abstehenden Schnurrbart und der verlotterten Kleidung sah er aus wie eine alte Vogelscheuche.
Erstaunt sah die Frau zu ihrem Mann.
„Das ist der alte Zaunkönig Refugio aus Brunolino“, raunte er ihr zu.
„Zaunkönig?“
„Sein Spitzname, weil sich in seiner Nähe immer ein paar der kleinen Vögel aufhalten!“
„Und was will der hier?“
Der Mann zuckte nur mit den Schultern.
Unter Ächzen stieg der bucklige Zaunkönig Refugio aus dem Gefährt und sah sich prüfend um.
„Wo ist er?“, brüllte er ohne ein Wort der Begrüßung.
„Guten Tag, der Herr. Auch wenn Ihr es eilig habt, solltet Ihr doch so viel Zeit erübrigen, uns zumindest zu erklären, wen oder was Ihr sucht.“ Zorn schwang in der Stimme des jüngeren Mannes mit.
„Wen ich suche? Das will ich Euch gerne sagen. Ich suche Euren Bengel. Sein Fjäl-Fräs hat meinen Sohn angegriffen.“
Die Blicke der Mutter huschten über den Acker, hin zum Misthaufen, hinter dem sich ihr Sohn nun versteckt hielt.
„Weshalb? Was ist passiert?“, erkundigte sich der Vater des Jungen.
„Euer Bursche war in meinem Garten. Ich nehme an, er wollte wieder einmal Fressen für diesen elenden Vielfraß ergaunern. Mein Enkelsohn hat ihn dabei ertappt. Und dieses unnütze Vieh hat sofort meinen Enkel heimtückisch angegriffen.“
„Wie könnt Ihr Euch so sicher sein, dass es sich dabei um unseren Sohn handelt? Es gibt schließlich viele Buben hier in der Gegend, die sich auf den ersten Blick doch alle sehr ähnlich sehen.“
„Das mag wohl sein, doch keiner der anderen Rangen wird von einer Bestie begleitet und zudem habe ich einen Zeugen.“
„So? Einen Zeugen?“
„Ja. Mervyn Sem Silas kam an unserem Garten vorbei und hat das Geschehen beobachtet. Und mein Enkel nannte sogar noch den Namen Eures Bengels, bevor er das Bewusstsein verlor.“ „Mervyn Sem Silas! Das soll Euer Zeuge sein?“, ereiferte sich der Vater.
„Wieso verdächtigt Ihr unseren Sohn? Das verstehe ich nicht. Franjo ist ein guter Junge, er würde niemals …“, unterbrach ihn die Mutter und versuchte, ihren Jungen zu verteidigen, doch mit einer heftigen Handbewegung stoppte der alte Mann ihren Redefluss.
„Platz da!“ Er stieß die Frau mit seinem Gehstock zur Seite, musterte die beiden verängstigten Kinder mit finsterem Blick, dann marschierte er geradewegs auf das Haus zu und riss die Türe auf.
„Komm heraus, du elender Dieb! Und bring das Untier gleich mit!“
Nichts rührte sich.
Refugio schlug mit seinem Stock gegen die Holztür.
„Raus! Sofort! Wenn ich dich erwische, ergeht es dir schlecht. Sei ein Kerl und stelle dich!“
Der Vater hatte inzwischen den alten Mann eingeholt.
„Es ist niemand im Haus. Franjo ist mit seinem Onkel schon den ganzen Tag im Wald, um Holz zu machen. Lasst uns jetzt weiterarbeiten. Die Zeit drängt. Es wird bald Nacht.“
Die Mutter suchte indessen mit fieberhaften Blicken das Gelände ab, konnte ihren Sohn aber nirgends mehr ausfindig machen. Franjo war längst in den nahen Wald geflüchtet, um sich zu verstecken.
„Das werdet Ihr mir büßen!“, geiferte Zaunkönig Refugio über seine Schulter hinweg, bahnte sich einen Weg zurück und kletterte in sein Gefährt.
„Los, Brauner“, herrschte er sein Pferd an und gab ihm die Peitsche.
Franjos Eltern sahen dem Gefährt noch lange nach, bis die endlose Weite des blaugrauen Horizonts es gemächlich schluckte.
Kapitel 2: Was ist ein Fjäl-Fräs?
„Rike! Aufstehen! Frühstück ist fertig!“ Rike streckte sich im Schlaf, trat mit dem rechten Fuß gegen die Bettdecke und kickte dabei ihren alten, zerfledderten Schlummerhasen aus dem Bett.
„Menno!“ Sie blinzelte ins Licht der Nachttischlampe, die wieder einmal die ganze Nacht hindurch gebrannt hatte und quälte sich aus dem Bett.
Beim Frühstück hing sie ihren Gedanken nach.
„Du bist so ruhig heute“, stupste sie Papa an.
„Ach, ich bin nur müde.“
„Du Papa, wir sollen doch nachts, bevor wir einschlafen, das Licht ausmachen, oder?“, mischte sich Nele ein. Ihre Stimme hatte diesen „Seht-ihr-wie-vernünftig-ich-bin-im-Gegensatz-zu-meiner-blöden-Schwester“-Ton drauf, den Rike absolut nicht leiden konnte.
Papa zog die Augenbrauen hoch, gab aber keinen Kommentar dazu ab. Nur Mama fiel natürlich wieder einmal auf die Masche herein.
„Das weißt du doch, Liebes. Erstens kostet es zu viel Strom und zweitens ist es nicht erholsam, wenn man bei Licht schläft.“
„Aber die Frida hat schon wieder die ganze Nacht das Licht brennen lassen!“, rief Nele. Rike kniff die Augen zusammen und funkelte Nele böse an. Warum musste Nele ständig petzen? Und warum nannte Nele sie Frida? Sie wusste genau, dass Rike, die eigentlich Friderike hieß, diesen Namen verabscheute.
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