Abgesehen von ihrer Lästerzunge war sie eine Freundin, deren Art erfrischend geradeaus war.
»Rollstuhl. Schalte bitte mal dein Kopfkino auf ein anderes Programm, Liebelein«, hatte sie abgewinkt, als Eva ihr halb im Scherz ihre schlimmsten Ängste angedeutet hatte. »Wenn du nicht mehr laufen kannst, dann kaufen wir dir eine Sänfte. Du sollst mal sehen, wie schick das aussieht.«
»Mit Trägern?«
»Selbstverständlich mit Trägern. Natürlich muss ich dafür Opfer bringen. Die eine oder andere Saison eine Handtasche von Prada weniger kaufen.«
»Du könntest ja auch mal eine Handtasche länger als ein halbes Jahr tragen.«
»Eine Tasche aus der letzten Saison spazieren führen?« Sie tat entsetzt. »Liebelein, wo denkst du hin. Ich bin zu Opfern bereit. Ich habe auch Schwächen, das gebe ich zu. Aber bitte verlange so etwas nicht von mir. Es gibt Grenzen.«
Sie meinte das ernst. Dann hatte sie Eva nur prüfend angesehen und genickt. Eva waren diese Gespräche mehr wert, als jeder noch so mitfühlende Blick. Doris half ihr, sich selbst nicht so ernst zu nehmen.
Sie hob bereits nach dem zweiten Klingeln ab.
»Hallo Doris. Eva hier.«
»Liebelein, was kann ich für dich tun? Hast du irgendwelche Insidertipps für mich von deinen Kollegen? Wo soll ich investieren? Ich brauche dringend mehr Cashflow.«
»Wenn du Geld brauchst, dann steckt Deutschland wirklich in der Krise.«
»Die Modebranche verlangt nach meiner Unterstützung. Und die Kosten für meine Kosmetikerin fressen mich auf. Das ist ein Fass ohne Boden. Die Kreditzinsen der Staatsverschuldung sind dagegen Kleingeld.«
»Keine Aktientipps heute, höchstens der Rat alle Geschäfte mit Eurobest einer dringenden Prüfung zu unterziehen. Aber ich habe etwas anderes Spannendes, über das ich mit dir reden möchte. Können wir uns in einer halben Stunde im Reitclub treffen? Es wäre die passende Umgebung dafür.«
»Oh. Jetzt machst du es aber geheimnisvoll.«
Eva konnte förmlich sehen, wie Doris am anderen Ende der Leitung große Augen bekam.
»Ich komme gerne, aber ich bin noch nicht präsentabel genug.«
»Wie lange brauchst du?«
»Das ist in diesem Zusammenhang eine sehr indiskrete Frage, findest du nicht? Sei so lieb, und gib mir eine Stunde.«
»Einverstanden«. Sie verabschiedete sich und legte auf.
Unentschlossen starrte sie das Telefon an. Ein Stunde, das gab ihr leider noch Zeit, um bei ihrem Hausarzt vorbeizuschauen.
Dabei hatte sie gehofft, sich durch ein rasches Treffen mit Doris vor ihrem Arztbesuch zu drücken, bis dessen Praxis dann geschlossen hatte. Die Ausrede funktionierte nun nicht mehr. Seufzend wählte sie die Nummer der Praxis. Doris war eben nicht immer eine Hilfe.
Winfried Vogel, der Hausarzt von Eva Ritter, hatte seine Praxis in einem jener würmchenverputzten Häuser, deren antiseptischer uniformer Anstrich vermutlich ein jahrhundertealtes, wunderschönes Fachwerk verbarg. Doch wie bei so vielen Hausbesitzern in Hessen fehlte Vogel schlicht das Interesse oder das Geld, um sich die Mühe zu machen, es freizulegen. Vielleicht wollte er aber auch nur die Konformität dieser Straße nicht stören, in der sich selbst die Geranien langweilten.
Eva parkte am Straßenrand und zog den Schlüssel aus der Zündung. Einen Moment lang spielte sie zögernd mit dem Schlüsselbund. Sollte sie hineingehen?
Es war nicht so, dass Eva eine Abneigung gegen Ärzte hatte. Mit Winfried Vogel kam sie sogar sehr gut aus. Bis auf das eine Mal, als er ihrer Tochter, die damals noch im Vorschulalter war, für eine Grippe gleich einen Antibiotika-Hammer verpassen wollte. Wie eine der Hexen aus Macbeth war sie damals zischelnd um seinen Schreibtisch herum gehüpft und hatte ihn als pharmaabhängigen Quacksalber beschimpft. Er war etwas eingeschnappt, aber es hatte gewirkt. Vogel entschied sich für ein herkömmliches Präparat, Corinna war nach einer Woche wieder auf dem Damm und eigenartiger Weise entwickelten Eva Ritter und Winfried Vogel nach dem Vorfall ein fast schon freundschaftliches Verhältnis.
Trotzdem gehörten Ärzte für Ritter zu einer jener Berufsgruppen, bei denen der Umgang mit ihnen ihr beinahe körperliche Schmerzen bereitete. Ob es so etwas wie Praxisangst gab, dachte sie. Sie stellte es sich so ähnlich wie Flugangst vor. Aber das war es nicht allein. Je öfter sie mit Ärzten zu tun gehabt hatte – und sie zählte dazu all die Forensiker und Leichenbeschauer, die ihr in ihrer Berufslaufbahn begegnet waren – desto mehr war sie zu der Überzeugung gelangt, dass man auf Ärzte verzichten konnte, wenn es nicht gerade darum ging, den Blinddarm herauszuschneiden oder Umleitungen für verstopfte Arterien zu legen. Bei der Mehrheit aller Krankheiten waren Ärzte entweder machtlos oder genauso hilfreich wie alte Hausmittel. Nach sieben Tagen war der Infekt vorbei, ob mit oder ohne Besuch beim Doktor.
Sie stieg aus, ließ die Tür hinter sich zufallen, wie üblich ohne das Auto abzuschließen, zog sich, ohne sich darüber so recht bewusst zu werden, am ziselierten gusseisernen Geländer der fünfstufigen Treppe zum Eingang der Praxis hoch, schob die Haustür auf, worauf sie nach zwei weiteren Schritten bereits vor der Anmeldetheke des Empfangs stand. Wie jedes Mal, wenn sie die Praxis betrat, blieb sie für einen Augenblick stehen und versuchte die Gerüche zu vergessen, die sich in dieser Sekunde in ihrer Nase festklebten. Es war diese Mischung aus Verbandmaterial, Salben, Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln, mit denen sich die alten Möbel vollgesogen hatten. Es war ein Geruch von Krankheit, Leid und Schmerzen. Wenn der Tod ein Aftershave benutzte, dann müsste es so riechen.
Die Sprechstundenhilfe war eine hochgeschossene, leicht untergewichtige Brünette. Wahrscheinlich bekommt sie diesen Geruch selbst mit Duschen nicht mehr aus der Haut, dachte Eva. Vielleicht war sie deshalb etwas auffällig geschminkt. Noch auffälliger aber war das Tuch aus Tigerfellmuster, das sie locker um den Hals gelegt trug. In einem Anfall von Klischeebildern sah Eva vor ihrem geistigen Auge zunächst ein goldenes Fußkettchen an den Fesseln der Frau. Daraufhin zeigte das Bild in ihrem Kopf die Frau zusammen mit dem Hausarzt nackt und stöhnend auf einer Patienten-Liege. Eva war sich sicher, dass sie der Wahrheit damit ziemlich nahe kam.
Sie grüßte kurz, legte ihre Versichertenkarte auf den Tisch, und Frau Schubert – entzifferte Eva Ritter auf dem Namensschild – winkte sie zu einem der Behandlungszimmer durch.
Das war eben ein Vorteil als Privatpatientin, die noch dazu eine Freundin des Hauses war. Es gab kurzfristige Termine außer der Reihe. Sogar wenn die Praxiszeit fast herum war.
Sie klopfte kurz am Rahmen der ledergenoppten Tür zum Sprechzimmer und trat dann einfach ein. Das Zimmer wirkte weniger wie ein Praxisraum, sondern eher wie das Zimmer eines asiatischen Wunderheilers. Die gläsernen Vitrinen hinter dem Schreibtisch aus Akazienholz waren gefüllt mit kleinen goldenen Figuren hinduistischer Tempeltänzerinnen und Buddha-Figürchen aus Kirschholz. Rechts an der Wand hing ein pastellfarbener tibetischer Wandbehang mit einem abstrakten Symbol. Ein weiterer Wandbehang gegenüber schien in einem wilden bunten Durcheinander aus Dämonen, Zauberern und Fantasiegestalten einen Arzt bei einer chirurgischen Handlung zu zeigen. Zumindest ein Hinweis, dass es sich hier um das Zimmer eines Arztes handelte. Auf dem kleinen mit Messing umrahmten Rauchglastisch neben dem Stuhl lag für den Besucher ein altes Anatomie-Buch in einem verwitterten ledernen Einband. Dem Zustand und der lateinischen Schrift nach zu urteilen aus dem gleichen Jahrzehnt wie die wurmzerfressene, mannshohe hölzerne Ganesha-Figur neben dem Fenster, die den Gott der Weisheit mit einem Elefantenkopf zeigte und jenen Patienten ein wenig Atmosphäre bieten sollte, die bei Vogel ihre kostspieligen fernöstlichen Heilbehandlungen privat abrechneten.
Читать дальше