Dies war seit Jahrzehnten ihre erste Fahrt, bei der sie nicht selbst am Steuer saß. Halbnackt wie sie war, nur dürftig in einen viel zu weiten Bademantel gewickelt, ging die wilde Fahrt mit Blaulicht und Martinshorn durch die verstopften Straßen der Stadt.
„Ich will nach Hause – mir geht es super!“, maulte sie beleidigt, während sie mit letzter Kraft versuchte, aus dem gruseligen Bett zu flüchten. Doch nun glaubte nicht einmal mehr Noras Körper ihr dieses Lügenmärchen und ihr ausgelaugtes Knochengerüst fiel in sich zusammen, wie ein Kartenhaus.
„Machen Sie die Augen auf! Sehen Sie mich an!“ Ein harscher Befehlston drang in Noras Gehirn.
Doch Nora hatte sich vorgenommen, nie wieder zu gehorchen und hielt sich auch jetzt eisern daran, auf der Schwelle zum Tod.
Susanne machte einen Kontrollgang durch ihren Garten. In einer Ecke zeigten sich bereits die ersten Schneeglöckchen. Zum Glück war nichts erfroren und sie hegte die leise Hoffnung, dass die Kiwi-Ernte wieder so reich ausfallen würde, wie im letzten Jahr.
Die Früchte waren zwar sehr, sehr klein; nur ungefähr so groß wie eine Weintraube, aber sehr süß und schmackhaft. Das lästige Schälen fiel weg, weil die Haut so dünn war, dass man sie ohne weiteres mitessen konnte.
Mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte auch ihre Lust auf Gartenarbeit. Nur widerwillig ging sie ans Telefon, als es unerbittlich klingelte.
Es war ihre Freundin Eva.
„Nora hatte einen Herzinfarkt!“, kreischte Eva am anderen Ende der Leitung.
„Wie? Was? Aber, aber …!“ Susanne fiel der Gedankensprung von Kiwi-Konfitüre zum verstopften Herzen ihrer Freundin äußerst schwer.
Erst vor wenigen Tagen hatten die Freundinnen noch einen sehr lustigen Kinoabend zusammen verbracht.
„Wie geht es ihr?“ Susannes Beine waren weich wie überreife Kiwis.
„Ich wollte sie gerade im Krankenhaus besuchen …!“, sagte Eva zögernd.
„Ja, und?“ kreischte Susanne. Ihr Geduldsfaden drohte zu zerreißen.
„Sie hat mich rausgeschmissen, weil ich ihr was zum Anziehen besorgen und sie so schnell wie möglich abholen soll. Du musst mir dabei helfen, Susanne!“
„Niemals! Und du lässt das kleine, raffinierte Biest auch schön dort, wo sie gerade ist. Ich glaube, noch mehr Aufregung können wir jetzt alle nicht gebrauchen!“
„Jetzt halt‘ doch endlich die Klappe!“ war der einzige Gedanke, an den Nora sich später noch erinnern konnte.
Man hatte sie operiert.
Aufgeschlitzt und wieder zugenäht.
Es war nun Noras Hauptaufgabe, diese Tatsache zu akzeptieren.
Eigentlich war Nora eine Meisterin darin, Tatsachen zu akzeptieren, um sie danach ganz schnell komplett zu verdrängen. Doch in diesem Fall stieß sie, aus unerklärlichen Gründen, an ihre Grenzen.
Plötzlich hatte Nora nur noch einen Wunsch: wieder gesund sein!
So wie früher!
Seltsam, als sie noch einigermaßen fit war, hatte sie so viele unerfüllte Wünsche. Und nun waren diese vielen, vielen kleinen Wünsche zusammengeschrumpft auf einen einzigen, übergroßen und sehr mächtigen Wunsch.
Sollte ihr Leben etwa gar nicht so schlimm gewesen sein, wie sie es immer befürchtet hatte?
Es tat sehr weh, zu lachen.
Das Lachen schmeckte bitter und blieb ihr im Halse stecken.
Sie würde nie wieder so gesund sein, wie damals, als sie die Treppen hinunter in die Waschküche gegangen war, um nach der Waschmaschine zu schauen, die da so laut und penetrant piepste.
„Sie haben Glück gehabt! Wir konnten Sie gerade noch retten! Der Eingriff war ganz klein und Sie können schon bald wieder nach Hause!“ War das der Weihnachtsmann, der mit dieser lustigen Micky Maus Stimme mit ihr sprach? Wieso hatte er einen weißen Kittel und keinen roten Mantel an?
Erst langsam registrierte Nora, dass nicht sie die komplizierte Herz-Operation über sich hatte ergehen lassen müssen, sondern die arme Patientin, die kurz zuvor zur Türe herein geschoben wurde, frisch von der Intensivstation.
Nora schielte immer wieder heimlich rüber zu ihr.
Das bleiche Gesicht wirkte sehr abwesend, während ihr Besucher verzweifelt um Fassung rang.
„Steht unter Drogen – bestimmt Morphium!“, flüsterte Luisa ihrer Mutter zu.
Als sie den Blick ihrer Mutter sah, musste sie lachen.
„Jetzt schau‘ nicht so neidisch drein! Dir haben sie bestimmt auch irgendein Medikament verpasst. Sonst würdest du nicht so brav im Bett liegen bleiben!“
„Ich will die Hütte verkaufen!“
„Und was wird dann aus uns?“
Nora blickte in ratlose, panisch dreinschauende Gesichter.
„Keine Ahnung …!“
„Aber was willst du denn dann machen? Du brauchst doch jemand, der sich um dich kümmert!“
„Ich war noch niemals in Alaska!“
Die Gesichtszüge von Luisa und Arno entglitten ihnen immer mehr.
„Mutter, was willst du denn in Alaska? Da ist es arschkalt!“
Nora tat so, als würde sie angestrengt nachdenken. Dann stellte sie fest, dass sie tatsächlich ins Grübeln kann. Wieso eigentlich war ihr Alaska so spontan in den Sinn gekommen? Sie hatte nicht wirklich vorgehabt, nach Alaska zu reisen. Doch plötzlich verspürte sie den Wunsch, diese Idee eiskalt in die Tat umzusetzen.
„Um das herauszufinden, werde ich so schnell wie möglich hinfahren müssen, fürchte ich!“, antwortete sie grinsend.
Nora machte eine lange Pause.
Die Blicke ihrer Kinder waren unbezahlbar.
Nora triumphierte.
„Und dann baue ich mir dort ein schnuckeliges, kleines Iglu, kaufe mir ein paar Schlittenhunde und schaue mir die Gegend an.“
„Und wie lange willst du dir dort die Gegend anschauen?“
„Bis mein Iglu geschmolzen ist und die Hunde mir die ganze Gegend gezeigt haben … vielleicht.“
Nora seufzte und senkte ihre Stimme.
„Wie lange ist es jetzt her, dass Papa tot ist?“ flüsterte sie, kaum hörbar.
Betretenes Schweigen, Verwirrung und Trauer.
„Ein Jahr, vier Monate und 13 Tage – höchste Zeit für mich, ein neues Leben zu beginnen, bevor auch mein Leben zu Ende ist!“
„Mit 55 – spinnst du?!“ Luisa war gerade mal 24 – was wusste sie schon vom Leben?
„Als Mutter bin ich längst arbeitslos – ich brauche eine neue Herausforderung. Auch wenn ihr meint, mich noch immer beschäftigen zu müssen. Wenn ich das Haus verkaufe, habe ich genug Geld, um mir in Alaska ein neues Leben aufzubauen!“
„Wieso ausgerechnet Alaska?“
„Ja, Luisa hat recht! Wieso nicht Australien? Da könnte ich den ganzen Tag surfen!“
„Genau! Oder nach Neuseeland! Dort könnte ich dann Tiermedizin studieren!“ Die Geschwister waren sich einig – wie immer, wenn demokratische Entscheidungen getroffen werden mussten.
Doch dieses Mal musste gar keine demokratische Entscheidung getroffen werden. Nora hatte ein Schlupfloch aus ihrem bisherigen Hamsterrad entdeckt. Dieses Schlupfloch war so überdimensional groß, dass sie es bisher völlig übersehen hatte.
„Ihr könnt sehr gerne und wann immer ihr wollt, nach Australien oder nach Neuseeland reisen und von mir aus auch bleiben. Ich ziehe nach Alaska. Und zwar alleine! Alles andere kommt mir nicht in die Tüte - ist viel zu langweilig!“ Nora schaute freundlich lächelnd in die Runde.
„Will noch jemand Tee?“
„Wenn du auf deine alten Tage noch Philosophin werden oder die Welt retten willst, musst du in einer Tonne leben, oder – noch stilechter – ganz spartanisch in einer Höhle. Vielleicht geht auch ein Wohnwagen oder ein Zirkuswagen. Im Internet habe ich kürzlich so einen Zirkuswagen gesehen – alle Achtung, der hatte für kleines Geld so einiges zu bieten!“
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