»Nein, aber der Schuster hat danach gefragt, und ich glaube, ihr habt mir einiges zu erzählen. Ich bin ganz Ohr!«
Peterle sah sie an und sagte treuherzig:
»Von mir hörst du nichts, denn ich musste mein Indianer-Ehrenwort geben!«
So, nun war es passiert. Peterle hatte sich versprochen, und es half auch nichts, dass er im selben Moment puterrot wurde. Er sah den strafenden Blick seines Vaters und hob hilflos die Schultern. Jetzt mussten sie wohl eine sogenannte Beichtstunde abhalten Peterle wurde anschließend gleich ins Bett geschickt. Anna und Tanja waren über das Geschehen entsetzt. Zur vorgerückten Stunde waren sich alle einig, dass sie noch viel besser aufpassen und in Zukunft skeptischer und vorsichtiger sein müssten. Mittlerweile standen die Zeiger der Uhr schon auf Mitternacht. Anna und Victor forderten nun auch die größeren Kinder zum Schlafen auf. Dann legten sie sich ebenfalls hin, und bis zum Morgen kehrte Ruhe in das Haus ein.
In dieser Nacht meinte es Frau Holle besonders gut. Ein stürmischer Wind fegte die ganze Nacht lang dichte Schneewehen ums Haus. Auch am Morgen konnte man noch keine zehn Meter weit sehen. Die ganze Familie saß beim Frühstück, und jeder blickte missmutig zum Fenster. Man bekam fast den Eindruck, als wollten sie heute gar nicht fertig werden mit dem Frühstück. Es war vollkommen still, nur Nero streckte sich auf dem Boden und gähnte laut vor sich hin.
»Was sein muss, muss sein«, seufzte Victor schließlich und erhob sich schwerfällig vom Tisch. Ein Raunen und Räuspern ging durch das Zimmer und endlich kamen auch die anderen in Bewegung. Einer nach dem anderen machten sie sich auf den Weg, um ihr Tagessoll zu erfüllen.
Anna trat ans Fenster und sah der kleinen Bande nach, wie sie sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuten.
Es wurde immer dunkler und das Schneetreiben noch dichter. Anna zog ihren Mantel an, um nach draußen zu gehen. Sie musste nach dem Reh sehen und es mit frischem Heu versorgen, auch die anderen Gasttiere warteten bereits auf ihr Futter.
Als sie das Gatter öffnete, kamen sie schon auf sie zugelaufen. Anna füllte die Tröge und sprach wie immer ein paar Worte mit den Tieren. Heute hatte sie das Gefühl, als würden sie ihr besonders aufmerksam lauschen, ja sogar eine Antwort geben wollen. Der kleine Hase kam sogar so nah zu ihr, dass sie ihn mit den Fingerspitzen berühren konnte.
»Na, ihr Lieben, das ist vielleicht ein Wetter, gell?«
Der mächtige Hirsch brüllte, als wolle er das Bejahen. Noch immer stand der kleine Hase mit erwartungsvollem Blick neben ihr. Anna bückte sich zu ihm hinunter und war überrascht, als er nicht weglief.
»Hast du die Mächte der Finsternis noch nicht vernichtet?«, flüsterte eine zaghafte Stimme. Anna traute ihren Ohren nicht. Sie sprang auf und suchte erschrocken nach einer Erklärung. Sicher war es der Wind gewesen, der sie jetzt sogar schon Stimmen hören ließ.
»Ich gebe dir einen guten Rat. Versuche beim nächsten Mal die Bestie zu töten, denn es wird langsam Zeit für mich! Ich würde mir gerne meine Jugend bewahren.«
Jetzt blieb kein Zweifel offen, es war das Häschen, das mit ihr sprach. Anscheinend war Isaja in Tiergestalt zu ihr gekommen.
Die Stunden vergingen, und Tanja war die Erste, die das Haus betrat.
»Mama, ich habe heute eine Eins im Diktat geschrieben!«
»Das ist ja toll, mein Schatz! Ich habe dir ja immer gesagt, wenn du dir etwas Mühe gibst, dann klappt es auch. Jetzt gib deiner Mutter erst einmal einen Kuss, dann kannst du weiter erzählen.«
Tanja kam der Aufforderung nach, und dann setzte ein Redeschwall ein, der erst durch das Aufreißen der Tür unterbrochen wurde.
Der Rest der Familie kam heim, da sie mit ihrer Arbeit im Wald nicht weitermachen konnten. Der starke Schneefall hinderte sie daran.
Anna wollte die seltsame Begebenheit eigentlich erzählen, ließ es aber dann doch bleiben, denn sie befürchtete, dass sie niemand ernst nehmen würde. So verbrachte die ganze Familie einen ungetrübten Nachmittag mit Spiel und Spaß.
Es wurde ein schönes, gemütliches Beisammensein, wie es alle so sehr liebten. Jeder konnte endlich einmal in Ruhe seinem Hobby nachgehen: Victor las ein Buch im Lehnstuhl, Mischa bastelte an seinem Flugzeug und Peterle ließ seine Eisenbahn entgleisen. Tanja blätterte in einer Modezeitschrift und zeigte ihrer Mutter eine schöne Weste, die sie bald häkeln wollte. Anna blickte auf das Bild, war aber geistig vollkommen abwesend. Tanja reagierte verstimmt, als sie es bemerkte: »Könntest du vielleicht einen Kommentar dazu abgeben, wenn ich dich etwas frage, oder ist das zu viel verlangt?«
»Lass mich in Ruhe, du siehst doch, dass ich mich auf mein Strickmuster konzentriere!«, gab Anna beleidigt zurück und schon hatten sich beide in der Wolle. Ein Wort gab das andere, und schon war der Abend gar nicht mehr ruhig und gemütlich.
Mischa und sein Vater verzogen sich in die Küche, um dort miteinander Karten zu spielen. Die schmollenden Frauen ließen sie im Wohnzimmer zurück. Nero ärgerte Peterle, indem er immer wieder eines der Häuschen neben der Eisenbahn verschleppte. Als der Junge sich lauthals zu beschweren begann, pfiff Victor durch die Zähne und der Hund trollte sich in die Küche, wo er sich unter die Eckbank verzog.
Am Sonntagvormittag war es üblich, dass die Familie gemeinsam die Kirche besuchte. Nero stand schon an der Tür – er wusste genau, dass es nicht mehr lang dauern würde, bis sie sich auf den Weg machten. Rex durfte sie begleiten und sich dann im Garten, mit des Schusters Hund die Zeit vertreiben.
Endlich erhoben sich die Eltern und gingen, gefolgt von den Kindern, nach draußen. Nero war der Erste, der am Jeep stand und schwanzwedelnd seine Ungeduld signalisierte. Bald schon fuhren sie durch die schneeverwehten Straßen und hatten schon nach fünfzehn Minuten die Kirche erreicht.
Als sie ankamen, standen der Schuster und seine Frau schon im Garten und erwarteten das Grüppchen. Die Familie gab den Hund in ihre Obhut und ging dann in die Kirche auf der anderen Straßenseite.
Nach der Kirche war es üblich, dass man im Gasthof »Zur blauen Traube« einkehrte und dort bei geselliger Unterhaltung zu Mittag aß. Die Försterfamilie und der Schuster mit seiner Frau folgten diesem Ritual jede Woche.
Im Wirtshaus unterhielt man sich über alles, was in der vergangenen Woche passiert war, und auch der Dorfklatsch kam nicht zu kurz. Nachmittags ging die Familie des Försters mit ihren Freunden, dem Schusterehepaar, in dessen Wohnung und verbrachte den restlichen Nachmittag dort bei Kaffee und Kuchen. Gertrud zeigte Anna ihre neuen Kochrezepte und den Zuschnitt für ihr nächstes Kleid. Die beiden Frauen waren so miteinander beschäftigt, dass sie erstaunt aufblickten, als Victor sie unterbrach und zum Aufbruch drängte. Gertrud versprach, schon bald bei Anna vorbeizukommen, um einen Nachmittag bei ihr zu verbringen. Dann machten sich die Gäste auf die Heimfahrt, damit sie noch vor Einbruch der Dunkelheit zuhause ankommen würden. Sie waren alle müde und ein bisschen wortkarg, da sie den ganzen Nachmittag mit Reden verbracht hatten. Schon von Weitem konnten sie erkennen, dass vor ihrem Häuschen etwas vor der Tür lag. Sie stiegen aus und sahen eine große Kiste vor dem kleinen Treppenaufgang.
Darauf stand mit einem Filzstift dick geschrieben: »Förster Wagner«. Ganz vorsichtig klappte Victor den Deckel hoch. Er stieß auf einen Berg Holzwolle, die er mit den Händen zur Seite schob.
Darunter befand sich eine riesengroße, wunderschöne Vase aus buntem Porzellan. Wer mochte ihnen wohl dieses Geschenk gemacht haben? Sie durchwühlten die Kiste gründlich nach einem Zettel oder einer Karte, fanden aber keinerlei Hinweis.
»Victor, wer könnte uns nur diese Vase geschickt haben?«, rätselte Anna und schob Peterle zur Seite, der sehr nah – zu nah – an das gute Stück herangekommen war. Sie brachte die schöne Vase ins Haus und stellte sie im Wohnzimmer neben dem Schrank auf den Boden. Die Blicke sämtlicher Familienmitglieder wanderten regelmäßig zu diesem Platz.
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