»Horch … was war das für ein Geräusch?«, fragte Tanja. »Da kratzt doch etwas!«
Schon wollte sie zur Tür laufen, aber der Vater sprang auf und hielt sie zurück. »Vielleicht ist das der Wolf, der unsere Witterung aufgenommen hat. Er nahm sein Gewehr und öffnete vorsichtig die Tür einen Spaltbreit, dabei traute er seinen Augen nicht: Vor ihm saß Nero! Der Hund drückte sich sofort an ihm vorbei und ließ sich vor dem warmen Kamin nieder. Die Freude war riesig, endlich war Nero wieder nach Hause gekommen. Alle setzten sich wieder und beobachteten zufrieden den Hund, der der Familie schläfrig zublinzelte. Victor stand auf und trat zu Nero.
»Jetzt muss ich aber mal nachschauen, wo er sich verletzt hat.«
Der Vater hatte sich an die Blutspur im Schnee erinnert. Als der Schäferhund die Ohren aufstellte und zu ihm sah, ging Victor vor ihm auf die Knie und streichelte seinen Kopf. Doch plötzlich knurrte und fletschte dieser die Zähne. Victor konnte nicht so schnell reagieren, wie der Hund ihm an die Kehle zu gehen versuchte. In letzter Sekunde gelang es ihm gerade noch, seinen Arm dazwischenzuschieben. Er sah direkt in die Augen des Hundes, und es durchfuhr ihn wie ein Blitz! Das waren die glühenden Augen der Finsternis.
»Mischa schnell, den Staub!«, schrie er. Mischa, der bereits zum Vater ging, machte einen Satz zurück zum Tisch. Er packte das Fläschchen und blies dem Hund etwas Staub in das Fell. Daraufhin jaulte Nero auf und wurde starr und steif. Im nächsten Moment fiel er leblos zur Seite. Anna rannte zu Victor und nahm ihn in die Arme.
»Hat er dich gebissen?«
»Nein, seine Zähne sind durch die dicke Jacke nicht durchgegangen.« Anna gab sich mit dieser Aussage aber nicht zufrieden, sie wollte sich selbst davon überzeugen und Victor musste seine Jacke ausziehen.
Mischa sagte aufgeregt: »Das war wohl der erste Versuch, uns zu vernichten. Wir müssen ganz besonders aufpassen und immer das Fläschchen in unserer Nähe haben.« Schweigend nickten alle und starrten auf Nero, der sich streckte und sich dann langsam und schwerfällig aufrichtete. Er ging zu Victor stupste ihn mit der Nase an und leckte ihm die Hände. »Der Bann scheint gebrochen, wir konnten Nero noch rechtzeitig befreien«. Anna setzte sich mit zitternden Händen an den Tisch. Die anderen taten es ihr gleich. So verharrten sie noch eine ganze Weile zusammen, bis die Müdigkeit sie übermannte. Es war schon spät, als sie endlich in ihre Zimmer gingen und das ganze Haus in tiefen Schlaf versank.
Die Sonne stand hoch am Himmel, gleißendes Licht überflutete die Waldlichtung. Ein Häschen hoppelte durch den Schnee, ansonsten war es noch ruhig. Aus dem Kamin stieg ein rußiges Wölkchen auf, als Tanja die Haustür aufriss. Händereibend trat sie vor das Haus, um die Fensterläden zu öffnen.
Mit einem Mal war lautes Hundegebell zu hören und Nero schoss wie eine Rakete aus dem Haus. Wie vom Teufel gejagt hetzte er durch den Schnee, warf sich auf den Boden und wälzte sich ausgiebig.
Victor verließ das Haus, um Holz zu holen, Peterle begleitete ihn.
»Vater, gehen wir heute auch zum Wild oder braucht es noch kein frisches Futter?«
»Peterle – am Nachmittag müssen wir natürlich noch zu den Futterstellen, dabei muss uns Mischa aber helfen, damit wir alles noch vor Einbruch der Dunkelheit schaffen. Am Vormittag muss ich erst einmal nach dem Schneepflug sehen, den er kaputt gemacht hat.«
Anna stand am Herd, um das Mittagessen vorzubereiten, Tanja schälte Kartoffeln.
»Mama, reichen die Kartoffeln oder braucht es noch weitere? Mir schmerzen nämlich langsam die Hände.« Mischa, der am Tisch saß, äffte Tanja nach. Anna warf einen Blick auf ihren Sohn. »Du hast es gerade nötig, einen Kommentar abzugeben. Schau lieber, dass du deinem Vater bei der Reparatur hilfst!«
Daraufhin verdrehte er die Augen, erhob sich und verließ das Haus. Victor stand gebückt vor dem Schneepflug und bastelte angestrengt daran herum. »Vater kann ich dir zur Hand gehen?«, fragte Mischa in der Hoffnung, dass er ablehnen würde. Aber da hatte er Pech gehabt, denn der Vater freute sich über das Angebot. Vonseiten des Sohnes war daraufhin ein verhaltenes Stöhnen zu hören. In der Küche herrschte reges Treiben. Hier noch ein bisschen Paprika in das Gulasch, dort noch etwas Salz für die Suppe, da läutete das Telefon.
»Forsthaus Wagner«, meldete sich Anna. Tanja hielt inne und horchte, was die Mutter sagte.
»Ist gut, ich werde es meinem Mann ausrichten. Am Grenzstein fünf, haben sie ein Reh angefahren und es ist verletzt in Richtung Wasserfall gelaufen. Mm ? ja, wahrscheinlich muss er es abschießen. Danke für Ihren Anruf!«
Anna sagte zu Tanja: »Armes Vieh, und das nur, weil die Leute nicht aufpassen. Ich sag gleich Victor Bescheid.«
Nach kurzer Zeit waren Victor und Mischa unterwegs, um nach dem Tier Ausschau zu halten. Aber sie waren nicht lange fort.
»Was ist denn jetzt los, der Jeep kommt ja schon wieder zurück?«, rätselte Anna. Die Türe wurde aufgestoßen und Mischa stürmte herein.
»Wir haben die Betäubung vergessen. Vater möchte erst einmal schauen, ob man es überhaupt töten muss!«
»Mischa, habt ihr auch etwas von dem Zauberstaub dabei?«, fragte ihn seine Schwester. »Nein, den haben wir auch vergessen!«
Tanja reichte ihm ein Fläschchen, in das sie eine kleine Menge zum Mitnehmen abgefüllt hatte. Mischa steckte es ein und kletterte wieder in den Jeep.
Am Grenzstein angekommen, konnten sie schon die Blutspur sehen. Sie verfolgten das Reh eine Weile zu Fuß.
»Es kann nicht sehr schlimm verletzt sein, sonst wäre es nicht so weit gekommen«, stellte Victor fest. Von Weitem konnte man schon das Tosen des Wasserfalles hören. Als sie dort ankamen, erblickten sie das Elend sofort: Ein kleines Reh lag blutend am Boden in der Nähe des Baches.
Victor ging vorsichtig auf das Tier zu und bückte sich zu ihm hinunter.
»Wir brauchen es nicht mehr zu betäuben, es ist schon zu schwach, um uns noch Schwierigkeiten zu machen. Gib mir mal die Tasche.«
Mischa konnte nicht verhindern, dass sein Herz zu klopfen anfing. Seit dem Vorfall mit Nero war er ängstlicher geworden. Der Vater gab dem Tier eine Spritze und verband es fürsorglich. »Mischa, wir müssen es mitnehmen und pflegen, bis es wieder gesund ist. Komm, pack mit an!« Sie hoben das Tier vom Boden und schleppten es zum Jeep. »Mensch ist das aber schwer, das hat fast schon das Gewicht von einem großen Reh!«
»Es steht auch gut im Futter«, sagte Victor.
Als das Reh auf dem Wagen lag und die Taschen gut verstaut waren, ging es zurück in Richtung Forsthaus. Mischa war erleichtert und fing zu pfeifen an. »Ja, ja, morgens pfeift der Vogel noch und am Abend hat ihn dann die Katz geholt«, sagte sein Vater, aber er schmunzelte dabei.
Anna hörte sie kommen und wartete vor dem Haus. Mischa und Victor hoben gerade das Reh vom Wagen.
»Ich mache euch das Gatter zum Stall auf. Ist es schlimm verletzt?«, fragte sie. »Nein, ich glaube, es wird bald wieder in Ordnung sein. Wir müssen ihm gleich Heu geben, damit es fressen kann, wenn es wieder zu sich kommt.«
»Das mach ich!«, schrie Peterle, der gerade dazugekommen war, um den Patienten anzusehen.
Nun konnten sie sich endlich in Ruhe um den Tisch versammeln und das köstliche Mittagessen genießen. Anschließend legten sie noch eine kurze Erholungspause ein, dann musste sich der Vater zu den Futterplätzen aufmachen, um das Wild zu versorgen.
»Ich möchte auch mit!«, rief Peterle laut.
Der Vater nickte ihm bejahend zu und Mischa schob den Kleinen wie aufs Stichwort vor sich in den Wagen.
Es war wie immer sehr viel Arbeit, sämtliche Futterplätze mit Heu aufzufüllen. Das Wild stand längst hungrig am Waldrand und verfolgte das Spektakel. Langsam begann es schon wieder zu dämmern und Peterle lag bereits im Wagen auf dem Rücksitz. Er war bei so viel frischer Luft müde geworden und eingeschlafen.
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