Zum Beispiel so: „Wenn diese verschiedenen Mädchen so in Ihrem weiten Seemannsherzen nebeneinander Platz haben - wie sieht das nun vom Standpunkt dieser Mädchen her aus? Gerade wenn sie so „prima“ sind, wie Sie sagen, wenn sie herzig und fürsorglich sind und Sie lieben: meinen Sie, es wäre ihnen dann egal, wenn sie erführen, dass sie nur eine unter mehreren oder gar vielen sind? „Natürlich dürfen sie nichts voneinander wissen“, ist die Antwort. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Und es liegen ja immer so lange Zeiten dazwischen, dass ihnen nichts abgeht. Ist man in einem Hafen, dann ist man ja ganz für die Betreffende da... Natürlich geht das Gespräch noch weiter, und gelegentlich kommt es auch zu einem etwas betretenen Schweigen. Aber als ob das alles, was sie für einen Augenblick verstummen ließ und nachdenklich machte, nur in einem schnell durchmessenen Vorraum stattgefunden hätte, erzählen sie plötzlich weiter, naiv, unbekümmert. Die Grammophonnadel hat ihre Rille wiedergefunden. Sie war nur für Augenblicke aus der Bahn gebracht. Ich kann mich nicht doktrinär darüber erheben und muss die Frage, die in alledem liegt, ernst nehmen. Da schreibt man dicke Bücher über Ethik, will sich auf einer Schiffsreise von dieser Strapaze erholen, und nun tauchen eben auf diesem Trip mit seinen ganz anderen Zielen plötzlich fundamentale und neue Probleme für eben diese Ethik auf. Vielleicht muss es in meinem Unternehmen noch ein ganz neues Kapitel geben, das vielleicht heißen könnte: „Ethik und Typus“ oder auch „die Brechung der Gut-Böse-Normen in den verschiedenen Lebensmedien“. Erst bei solchen Gelegenheiten merkt man, wie relativ homogen der Menschentypus ist, mit dem wir es in unseren Berufen üblicherweise zu tun haben, auch wenn man sich, wie in meinem Falle, in recht verschiedenartigen Kreisen bewegt. Aber wie sehr fehlt einem die Innenansicht völlig anderer Lebenssituationen... Ich bemühte mich nach Kräften, offen zum Hören zu bleiben und - so schwer es mir fällt - selbst meine stabilsten Meinungen in diesem thematischen Umkreis als mögliche Vorurteile zu unterstellen, die vielleicht einer Korrektur bedürfen. Ich frage mich ernstlich, was an diesen meinen stabilen Meinungen christlich und was bürgerlich ist. So radikal wie hier, ist mir diese Frage noch nie gestellt worden, auch während meiner Soldatenzeit nicht. Ich merke, wie schwer es ist, sich im Hinblick auf alles Doktrinäre zu entschlacken und einfach hinzuhören - immer nur hören zu können und alles zu einer Anfrage werden zu lassen... Sie haben zum Teil einen verzehrenden Dienst, wenn ich an die 50 bis 60 und noch mehr Grade in der Maschine denke - einen Dienst, der nach einem Ausgleich durch Weichheit und eine andere Art von Wärme ruft. Ich denke auch daran, dass die Seefahrt selbst schon eine Art von Selektion in puncto Vitalität und körperlicher Kraft besorgt. Und vor allem überlege ich mir, dass diese gesunden und simpel gebauten Burschen ja nicht wie die Gebildeten anderer Gesellschaftsschichten die Möglichkeit der Sublimierung, die Abenteuer des Geistes und der Seele, die Feste der Bücher und Gedanken, „ästhetische“ Erfüllungen, die Hineingenommenheit durch ein Gespräch und vieles andere kennen. Der Massivität der Seelen entspricht auch die Massivität des Erlebens, und das Vakuum des Erlebnisraumes, das sich in der „Eintönigkeit“ der Seefahrt ergibt, schreit nach Füllung... Merkwürdig, wie diese Seereise zunächst ganz andere Effekte für mich zeitigt, als ich sie erwartete: alles, was ich bisher zu sehen bekam - und wie viel ist das immerhin schon! –, tritt zurück hinter dieser Attacke auf gewisse Selbstverständlichkeiten meiner Anthropologie. Ich gehe mehr und mehr in der Welt des Schiffes auf, deren Bewohner zu unablässigen Exerzitien des Geistes nötigen und zu harten Revisionen zwingen. Wie merkwürdig sind diese Bewohner doch! Diese jungen Bären, die in jedem Honig der Welt herumwühlen, sind verschämt und verschüchtert, wenn unsere beiden Mädels in das Schwimmbassin steigen. Auch jetzt noch würden sie niemals gleichzeitig hineingehen. Sie haben so etwas wie eine fromme Scheu und sind auf einmal wieder kleine Buben. Bei meiner Bibellektüre achte ich darauf, wie nachsichtig Jesus Christus mit den Sünden der Sinne ist und wie hart und unerbittlich er den Geiz, den Hochmut und die Lieblosigkeit richtet. Bei seinen Christen ist das meist umgekehrt.“
Wenn auch nicht mehr jeder deutsche Knabe einen Matrosenanzug trägt, wie einstmals, so ist doch seit der wilhelminischen Zeit her in unserer Gesellschaft trotz des Niederganges und der gewaltigen Strukturveränderungen der deutschen Seeschifffahrt in den letzten Jahren bei vielen Menschen immer noch ein romantisch verklärtes Interesse an der Seefahrt vorhanden, was seinen Niederschlag in der Langlebigkeit der Hafenkonzert-Rundfunksendungen, der Hans-Albers- und Freddy-Quinn-Romantik findet.
Die Verhältnisse in der deutschen Schifffahrt änderten sich ab Anfang der 1970er Jahre gewaltig. Anfang bis Mitte der 1970er Jahre eroberte der Container und in den 80er Jahren die Elektronik die Schifffahrt. Die Gewerkschaften erstreikten nie geahnte Errungenschaften für die Seeleute. Wurden diese „Fortschritte“ für die deutschen Seeleute bald zum Fluch? Die Hafenliegezeiten reduzierten sich drastisch. Landgang in fremden Häfen wurde immer kürzer und seltener möglich. Die Zahl der Besatzungsmitglieder eines großen Überseefrachters sank in den letzten Jahrzehnten von 40 über 20 auf 12 Mann. Das ferngesteuerte unbemannte Überseeschiff ist nicht nur denkbar, sondern wurde bereits getestet. Obwohl im letzten Vierteljahrhundert Zehntausende deutscher Seeleute freigesetzt wurden und in Landberufe abwandern mussten, ist die Seefahrt ohne die Menschen an Bord noch nicht ganz denkbar. Langlebige Vorurteile in der Gesellschaft gegenüber den Seeleuten treffen heute nach meinen jahrzehntelangen Erfahrungen nur noch sehr eingeschränkt zu. Wer sich als deutscher Seemann heute noch beruflich behaupten kann, muss fachlich hoch qualifiziert und zu großen Opfern an Anpassung, Stress und Vereinsamung an Bord bereit sein. Nur aus Edelholz geschnitzte Charaktere halten das noch durch. Hinzu kommt eine gehörige Portion Glück.
Die Seefahrt brachte in Jahrhunderten eine eigene Kultur hervor, die auszusterben droht mit dem Einzug der Hochtechnologie und des Containers an Bord und dem dramatischen Sterben des Seemannsberufes in Europa. Träger dieser Kultur sind Menschen, Menschen, die in den letzten Jahrzehnten in der Seefahrt arbeiteten, die mir im Seemannsheim begegneten, die vereinzelt noch heute an Bord tätig sind. Das Schicksal dieser Menschen sollte nicht in Vergessenheit geraten. Einer davon ist Kapitän E. Feith, der über sich, seine Berufswelt und viele seiner Kollegen in seinen vorliegenden Memoiren höchst aufschlussreich und spannend erzählt.
Herr Feith ist inzwischen leider verstorben.
Ein besonderer Dank gilt Herrn Jochen Esdohr † aus Magdala und Frau Monica Maria Mieck für das Korrekturlesen.
Hamburg, 2003 / 2014 Jürgen Ruszkowski
Kapitän Emil Feith – Herkunft und Kindheit
Der mittesechzigjährige immer noch aktive Kapitän E. Feith wirkt auf den ersten Blick unauffällig und eher etwas spröde, entpuppt sich bei näherem Hinsehen aber schnell als ein mit allen Wassern der Weltmeere gewaschenes interessantes Multitalent. Mit Blick auf eine Parkanlage an der Grenze zwischen den Hamburger Stadtteilen Ottensen und Othmarschen residiert er in einer schönen gutbürgerlichen Altbauwohnung in der Nähe der Elbchaussee mit Frau und Tochter, wenn er nicht gerade mit seinem Schiff auf hoher See unterwegs ist. Seine Wohnung hat er mit vielen Souvenirs aus aller Welt und mit einer Reihe selbstgemalter Kapitänsbilder – in Öl gemalte Segelschiffe – dekoriert. Stolz zeigt er ein liebevoll und mit Sorgfalt gestaltetes Fotoalbum mit interessanten alten Schwarzweißphotographien aus seiner seemännischen Laufbahn in den 1950er und 60er Jahren. Den ersten Teil seiner aufschlussreichen Memoiren vom Aufstieg aus den Anfängen als Moses bis zur verantwortlichen Tätigkeit als 1.Nautischer Offizier und einige Erlebnisse als Kapitän hat er bereits unterwegs an Bord in die Schreibmaschine getippt und dabei seine regelmäßigen fleißigen Eintragungen ins Tagebuch ausgewertet. Die Schilderung der vielen weiteren Erlebnisse seiner über 30jährigen Fahrzeit als Kapitän, werden folgen, wenn er endgültig das Ruder aus der Hand gegeben haben wird. Aber noch mag er nicht ins Altenteil hinüberwechseln. Captain E. Feith berichtet:
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