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Es ist Frühling. Es ist Sommer.
Am 1. Oktober geht es nach Düsseldorf. Ein halbes Jahr, zwischen Ostern und Herbst, in dem August die Freiheit des Flanierens und Skizzierens in vollen Zügen genießt. Ein halbes Jahr Zeit zum Abschiednehmen.
Er besucht Lisbeth fast täglich, mit der gleichen Begründung wie beim ersten Mal: Malen. Und diesmal nicht mit Kohle, sondern, ganz erwachsen, in Öl. Das dauert länger, viele Nachmittage, und jeder Mensch, auch Mutter Gerhardt, muss dafür Verständnis haben. Oft ist es draußen schon dunkel, wenn die Sitzung zuende ist. Unten, vor der Haustür, geht sie noch weiter. Man hört Raunen, Kichern, helles Lachen, dunkles Lachen - und dann wieder zwei Stimmen, die ganz leise und vertraut zueinander sprechen und die Zukunft dabei ängstlich ausklammern. Wenn er geht, schaut sie ihm nach, bis ihn die Dunkelheit verschluckt hat.
Eines Abends verstummen ihre Stimmen plötzlich. August hat Lisbeths Kopf ganz zärtlich in seine großen Hände genommen und küsst sie auf den Mund. Ein Zug rattert durch das Stahlgewölbe der Viktoriabrücke. Er gewinnt an Geschwindigkeit. Deutlich hört man das Zischen und Fauchen der Lokomotive. Gleich wird er den Bahndamm am Tannenbusch erreichen und später Köln und noch später vielleicht Düsseldorf...
"Ich hätte Sie auch schon so gerne einmal geküsst", flüstert Lisbeth, als sie aus der Umarmung aufwacht. Sie ist froh über die Dunkelheit, weil sie merkt, wie ihr die Röte ins Gesicht geschossen ist.
Nachdem sie sich geküsst haben, sagen sie 'Du' zueinander. Sie achten die Reihenfolge. Sie wissen, was sich gehört. August hat das Gefühl, auf einer Wolke nach Hause zu schweben. Lisbeth steht noch lange an ihrem Fenster und schaut hinaus in die Sommernacht.
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Ich wandle unter Bäumen, ich wandle in der Stadt
Und durch das stille Träumen wurde das Auge matt.
Der einzig süße Schrecken, der meine holde Muse
Kann aus den Träumen wecken, ist Deine rote Bluse.
A.M.
Am Fuß der Godesburg hat sich eine Schulklasse ins Gras gelagert; schwatzend, kichernd, malend. Den Drachenfels haben sie schon gezeichnet und seine Legende gehört. Nun ist die Godesburg dran; und, wer weiß, welche romantischen Gemäuer noch auf die mäßig interessierten Elftklässlerinnen warten... Eine von ihnen ist Lisbeth. Sie trägt eine knallrote Bluse. Sie weiß nicht, dass sie beobachtet wird.
Hoch oben auf dem Turm steht ein stattlicher Ritter mit braunen Haaren und verträumten Augen und hält Ausschau nach dem Burgfräulein. Der rote Punkt im grünen Gras verrät sie...
Als sie sich später treffen, überreicht er ihr das Gedicht.
"Weil ich das Rot so sehr mag an Dir, meine kleine -"
"Carmen?"
Manchmal schwänzt sie sogar den Zeichenunterricht, weil sie diese letzten Wochen mit August bis zur Neige genießen will. Die Kunstlehrerin hat kein Verständnis dafür. Sie möchte Zeichnungen sehen. Irgendwann wundert sie sich darüber, dass ausgerechnet die Schülerin, die am häufigsten fehlt, nicht nur die meisten, sondern auch die besten Arbeiten abliefert. In dem Fräulein Gerhardt scheinen Talente zu schlummern...
Die letzten Wochen werden eingeleitet durch Kartoffelfeuer, die nun überall auf den abgeernteten Feldern brennen. Lisbeth und August gehen manchmal stundenlang nebeneinander her, ohne dass er ein einziges Wort sagt. Lisbeth spürt, wie er leidet: am Absterben der Natur, am Abschied von ihr, am Abschied von seinem Vater, der schwerkrank im Bett liegt. Ein winziger abgestorbener Halm schon genügt, ihn zur Verzweiflung zu bringen - als ahne er etwas von der Tiefe, die dahinter beginnt. Aber wenn sie nach einer solchen Wanderung wieder in einem Wirtshaus einkehren und Freunde treffen, ist August wie umgewandelt: seine Bassstimme dröhnt durch das Lokal, sein Humor entzündet Lachsalven, die Freunde klopfen ihm auf die Schultern und er ihnen... Lisbeth schaut ihn dann von der Seite an, schweigend, nur ein ganz kurzer Blick, fragend, wissend.
Abends, auf dem Heimweg in der frühen Dämmerung, brechen sie ihr Schweigen.
"Ich werde dir oft schreiben aus Düsseldorf, Lisbeth."
"Du sollst mir nicht schreiben."
"Warum?"
"Verstehst du das nicht? Ich möchte dich so haben, wie du jetzt bist... und dich auch so in der Erinnerung behalten. Ein August Macke passt nicht auf vergilbtes Briefpapier. Und auch in kein Kuvert."
Sie lachen. Sie laufen am Bahndamm unter hohen, windzerzausten Pappeln entlang. August hat den Arm um ihre Schulter gelegt, ganz fest, und zieht sie an sich heran. Diesmal spürt er keinen Widerstand.
"Wahrscheinlich hast du recht. Nachher artet die Schreiberei in Floskeln aus und wir werden uns immer fremder dabei. Nachher siezen wir uns gar wieder? Aber eine ganz offizielle Postkarte ... um dem Fräulein Gerhardt alle vier Wochen meinen Besuch in Bonn anzukündigen ... ist das erlaubt? Als Lebenszeichen sozusagen?"
"Genehmigt."
"Dann könnten wir uns am Sonntagvormittag sehen..."
Lisbeth nickt stumm und versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Alle vier Wochen für ein paar Stunden? Würde sie das einander noch mehr entfremden als förmliche Briefe? Sie behält ihre Gedanken für sich.
Ein Händedruck, ein Kuss, eine lange Umarmung. Sie verabschieden sich dort, wo sie sich immer verabschiedet haben. Der Zug unter der Viktoriabrücke... August eilt weiter, zum nächsten Abschied.
Ein Sohn sitzt am Sterbebett seines Vaters, den Zeichenblock auf den Knien. Das Porträt eines leidenden Menschen, vom Tode gezeichnet, ist sein letztes Bild, bevor er Bonn verlässt.
Kopf eines griechischen Jünglings: Gips. Spinnweben. Zeichnen!
Pferd eines etruskischen Kriegers: Gips. Spinnweben. Zeichnen!
Ein Totenschädel. Staub. Zeichnen. Torso einer Venus. Gips! Zeichnen! Venus... August denkt voller Sehnsucht an Lisbeth, während um ihn herum würdige Kommilitonen in Vatermördern ihre Bleistifte und Kohlestücke über geduldiges Papier kratzen. Was sie in einer Woche schaffen, schafft er an einem Tag. Er spürt ihr Misstrauen, wenn sie an seinem Zeichentisch vorbeigehen und aus den Augenwinkeln, möglichst unauffällig, nach seinen Arbeiten schielen.
August ist fassungslos. Soll d a s sein großer künstlerischer Aufbruch sein, für den er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat? Oder ist er etwa vom Regen in die Traufe geraten? Am Bonner Realgymnasium waren die meisten Professoren zwar genauso verknöchert wie hier, die Kameraden dafür aber um so lebendiger... Und nun drei Jahre lang Spinnweben von Gipsglatzen wischen, bis für ihn die Tür zur Malklasse, zur Farbe, aufgeht? Was tun?
Rauchen! Trinken! Feiern! Wenigstens hierfür findet August Gleichgesinnte. Sie heißen Katt und Kropp und Bull und später auch Cito. Sie sind trinkfest und fest davon überzeugt, dass das Leben nicht nur aus Zeichnen besteht. Frauen, Fräuleins und feuchtfröhliche Abende in abgedunkelten Ateliersälen. Statt dem Rausch der Farben erleben sie den Rausch des Weines. Auf dem lautstarken Heimweg von einem solchen Fest erklettert August in der Alleestraße das friedlich vor sich hin schlummernde Moltke-Denkmal. Er gibt nicht auf, bis er auf gleicher Höhe mit dem Generalfeldmarschall steht. Ein neues Denkmal ist entstanden. Schiller und Goethe? Macke und Moltke. Der große Stratege. Der Mann, der den Frankreichfeldzug gewann. Mit drei Armeen in die Flanke des Feindes. Sieg bei Sedan. Er spricht. Wer spricht?
Die ersten Fenster öffnen sich. Hinter raschelnden Gardinen erscheinen schlaftrunkene Gesichter. Sie werden hellwach, als sie das bewegte Denkmal sehen. Moltke lebt... Und wie er redet. Mit volltönender, abend- und straßenfüllender Bassstimme verkündet er die Kapitulation aller Krieger und Köpfe, die aus Gips bestehen.
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