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Da ist das amtliche Schreiben, ganz in Rot, lang erwartet, gefürchtet, unmissverständlich.
„Jetzt bist du also auch an der Reihe“, sagt Lily und wischt sich eine Träne aus dem Auge.
Paul Klee scheint sich mehr für die Farbe des Papiers als für seinen Inhalt zu interessieren.
„Was sie wohl mit dem Rot bezwecken? Ein Warnsignal? Du wirst jetzt einberufen . Dein Blut gehört von nun an nicht mehr dir selbst, sondern dem Vaterland und dem Schlachtfeld. Du darfst es dort freudig vergießen! “
Lily Klee mustert ihren Mann kopfschüttelnd. Ihr Paul . Wie er vor ihr steht, schmächtig, der Kinnbart schütter und zerzaust wirkend, die dunklen Augen auf den unsäglichen roten Zettel gerichtet.
„Paul, rede nicht einen solchen Unsinn. Immerhin bist du schon 35. Da wird man dir einen ruhigen Posten auf der Schreibstube verschaffen.“
Paul Klee lächelt sarkastisch.
„Und neben dem Schreibtisch steht eine schöne Staffelei nebst den zugehörigen Malutensilien.“ Er ergreift Lilys Hand und drückt sie ganz fest. „Ach Lily, wenn es denn so wäre... Doch ich fürchte, wenn sie jetzt schon meinen Jahrgang einziehen, dann brauchen sie in Frankreich wirklich jeden Mann. Die Verluste sind einfach zu groß! Erinnerst du dich, wie sich Franz Marc bei seinem letzten Fronturlaub gewundert hat, mich noch in Zivil zu sehen? Aber diese Zeiten sind nun vorbei. Das nächste Mal wird er sich nicht mehr wundern!“
Lily wendet sich ab. In diesem Moment hat sie die gleichen Bilder vor Augen wie ihr Mann: Gebeugte einbeinige Gestalten, die unbeholfen auf Krücken über das Münchner Straßenpflaster humpeln. Männer mit turbanartigen Kopfverbänden und schwarzen Augenklappen. Mit jedem Zug, der von der Front zurück kommt, scheinen sie sich zu vermehren. Sie bevölkern Parks und auch Cafés, sofern das Geld reicht. Sie sind nicht mehr zu übersehen. Manche verstecken sich schamhaft bei ihren fassungslosen Familien.
Das rote Blatt Papier, das alles verändert. Sie lassen es auf der Kommode neben dem Garderobenständer liegen.
An diesem Abend findet Paul Klee lange nicht ins Bett. Zu viele Bilder gehen ihm durch den Kopf, eigene und fremde, furchteinflößende. Scheinbar planlos räumt er die Schubladen mit seinen Utensilien aus und stapelt sie zu hohen Türmen aufeinander. Sieht so Ordnung machen aus? Und wenn ja – warum eigentlich? Sieht so Abschied nehmen aus? Oder geht es nur um Ablenkung ?
Als Klee einen der Türme mit dem Ellbogen zum Einsturz bringt, wacht Lily auf.
„Komm ins Bett, Paul“, murmelt sie schlaftrunken.
Er wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn, als hätte er soeben Schwerstarbeit geleistet.
„Ich komme“, sagt er. Nur noch schnell den Schweiß von Stirn und Händen waschen und leise, leise zurück ins Schlafzimmer gehen. Lily ist schon wieder eingeschlafen.
Paul legt sich neben sie und verkriecht sich bis zum Kopf unter seiner Bettdecke. Schutz suchen. Ruhe finden.
Er schreckt auf. Die Türklingel läutet, aber nicht kurz und rücksichtsvoll, sondern lang und durchdringend. Paul Klee schaut auf die Uhr. Es ist kurz vor Mitternacht.
Ein Pfeil zischt durch die Luft, sucht sein Ziel und bohrt seine Spitze in das Gesicht eines elfjährigen Jungen. Wie eine Antenne ragt das metallene Geschoss aus seinem rechten Auge. Schreiend und blutend rennt der Junge davon. Sein Freund ist ihm auf den Fersen.
"August! Warte!"
August, wie von Sinnen, rennt weiter und hinterlässt eine blutige Spur. Der Pfeil in seinem Auge schwankt hin und her, als wäre er eine Kompassnadel, die den Weg weisen will. Aber das Schlachtfeld ist unwegsam: Halbfertige Baugruben; Schutthügel, die von Brennnesseln überwuchert sind, eingestürzte Grundmauern, Steinhaufen, Weidenbüsche.
"August! Bleib stehen!"
Er blutet. Er schreit. Er rennt.
Hans, der Freund, verfolgt ihn weiter. Er macht wertvolle Meter gut. Er gibt nicht auf. Sein Keuchen geht im Schreien unter. Noch ein Schritt, ein Satz, und er hat August eingeholt.
Ein Ruck. Hans greift zu. Der Pfeil fliegt in hohem Bogen davon. August ist stehen geblieben. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Die kurzen, braunen Haare sind schweißnass. Aus einem kleinen Loch neben dem rechten Auge sickert frisches, hellrotes Blut. Hans zieht ein Taschentuch aus seiner Jacke und reicht es August. Der presst es auf die Wunde. Wie lange sie so, umgeben vom Schlachtenlärm, verharrt haben, wissen sie später nicht. Waren es nur Sekunden? Irgendwann nimmt August das blutige Taschentuch seines Freundes aus dem Gesicht. Er grinst.
"Glück gehabt. Oder bin ich jetzt einäugig?"
Hans atmet tief durch.
"Das hätte ins Auge gehen können! Im wahrsten Sinne des Wortes! Wasch' Dich erst mal zuhause!"
"Kommt nicht in Frage. Revanche!"
Sie kehren um.
Und während sie sich wieder der Frontlinie nähern, von der sie gekommen sind, wirft Hans seinem großen, kräftigen Kameraden einen Blick zu, der zwischen Verwunderung und Bewunderung schwankt.
Der Kampf geht weiter. Für Wehleidigkeit ist kein Platz. Wem gehört Köln? Altstadt gegen Neustadt; Eingesessen gegen Zugezogen, Katholiken gegen Protestanten. Heute gewinnt die Neustadt. Hans, August und ihren Freunden gelingt es, die Gegner zu umzingeln und zwei ihrer Anführer mit einem Lasso einzufangen. Sie wissen, was ihnen blüht. Die Marterpfähle sind bereit. Sie bestehen aus Holzbalken, welche die Jungen eigenhändig in den sandigen Boden gerammt haben. Nach dem Fesseln heißt es Hosen runter, und dann wird mit Brennnesselruten ausgepeitscht. Indianer kennen keinen Schmerz. Oder doch?
Wenn mit dem Abend der Hunger kommt, ziehen Freund und Feind nach Hause und überlassen das Schlachtfeld den herrenlosen Hunden. Der Lärm ebbt ab.
Was wird der nächste Tag bringen? Wie wird der Heeresbericht lauten? In der Neustadt nichts Neues?
Nach dem Abendessen liegt ein elfjähriger Junge in seinem Bett und befühlt ein dickes Pflaster am rechten Auge. Durch das offene Fenster im Parterre hört er das Klappern und Rattern der Pferdefuhrwerke auf der Brüsseler Straße. Die Hufe wiegen ihn in den Schlaf. Er merkt nicht, wie seine Mutter ganz leise hereinkommt und besorgt nach ihrem einzigen Sohn schaut, der zusammengerollt unter seiner Bettdecke liegt. Nur der braune Haarschopf quillt hervor. Die Decke hebt und senkt sich unter seinen ruhigen, regelmäßigen Atemzügen.
Er träumt von Schwebebahnen, Dampfschiffen, Torpedos und großen Kanonen; von Schlachten, die geschlagen wurden und Schlachten, die noch zu schlagen sind.
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Hans. Habsburgerring. Ein Unfall.
Ein Junge springt von einem fahrenden Straßenbahnwagen, stolpert, stürzt und wird vom Gegenzug überrollt. Er hat keinen Fahrschein. Als er im Krankenhaus aufwacht, hat er keine Beine mehr. Der Kampf um Köln ist vorbei, an diesem Frühlingstag des Jahres 1899. Statt tückischer Pfeile und Lassoschlingen huschen schwarzgekleidete Schwestern durch die Flure und Krankensäle des Bürgerhospitals. Gegrüßet seiest Du, Maria, Du bist voller Gnaden... Wochenlang schwebt Hans zwischen Leben und Tod.
Die Familie kommt zu Besuch; Mutter, Vater, Onkel, Tanten. Sie sind verlegen. Was sollen sie sagen?
August kommt, zum ersten Mal. Er ist nicht verlegen. Er weint, als er seinen Freund sieht. Dann siegt die Neugier.
"Zeig' mal", sagt er, und Hans muss die Bettdecke so weit herunterziehen, dass man die beiden bandagierten Beinstümpfe sehen kann.
"Jetzt stell' dir mal vor", sinniert August, "du wärst noch tiefer unter die Räder gekommen. Vielleicht an dieser Stelle. Oder an dieser..."
Er ist aufgestanden und demonstriert an seinen Oberschenkeln, was er meint. Die Handkante ersetzt das verderbenbringende stählerne Rad des Straßenbahnwagens. Sie rutscht nach oben; wandert bis zu der Stelle, wo sich zwischen den Schenkeln etwas befindet, über das sie schon oft Witze gemacht haben....
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